Seerosen
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Von Seerosen, dem Coronavirus und guten Entscheidungen

Ein Beitrag von Steffen Huck

Hier ist ein kleines Rätsel.

Die Seerosen in einem Teich verdoppeln ihre Fläche jeden Tag. Wenn der See nach 48 Tagen komplett mit Seerosen bedeckt ist, wie lange hat es gebraucht, bis er zur Hälfte bedeckt war?

Waren Sie versucht, 24 zu sagen? Dann willkommen bei der Mehrheit!

Die Frage ist Teil eines aus nur drei Fragen bestehenden Tests, der die Reflexionsfähigkeit von Probanden untersucht. Entwickelt von Yale-Professor Shane Frederick (1) ist der Test in den letzten 15 Jahren zu einem der meist benutzten Module in der experimentellen Wirtschaftsforschung geworden. In vielen Situationen zeigt sich dabei, wer den Test gut besteht, trifft auch bessere ökonomische Entscheidungen, spart zum Beispiel klüger und investiert vernünftiger. Selbst die Fähigkeit, strategisch zu denken, also zu verstehen, dass in vielen Situationen, die Konsequenzen des eigenen Handelns auch vom Handeln anderer abhängen, korreliert robust mit dem Abschneiden im Test (2).

Die richtige Antwort lautet natürlich 47, und in der Zahl steckt viel vom Schrecken von Covid-19 und den Problemen, die Politiker und Bürger gleichermaßen im Verstehen der täglich aktualisierten Zahlen haben. Exponentielle Wachstumsprozesse wie die der Seerosen und des sich ausbreitenden Coronavirus haben die Eigenschaft der konstanten Verdopplungszeit. In der Aufgabe braucht eine Verdopplung der Seerosen genau einen Tag. Das Coronavirus ist etwas langsamer: dort, wo es sich ungebremst ausbreiten darf, braucht es rund drei Tage, um die Zahl der Infektionen zu verdoppeln. Erst in der Endphase verlangsamt sich dieser Prozess, schlichtweg weil weniger Menschen da sind, die noch angesteckt werden können. Trotzdem bleibt das Verdopplungsintervall kurz, und so zeigt zum Beispiel die Simulation eines Teams der Universität Basel (3), die den Peak eines ungebremsten Ausbruchs in Deutschland für die erste Maihälfte vorhersagt und eine Gesamtzahl von 700.000 Toten prognostiziert, dass sich über ein Drittel dieser Todesfälle, nämlich circa 240.000, innerhalb von nur neun Tagen ereignen wird.

Der Physiker und Wachstumstheoretiker Al Bartlett wurde nie müde seine zahllosen Vorträge zu Wachstumsprozessen (4) mit dem Satz einzuleiten: “Der Menschheit größte Unzulänglichkeit ist ihre Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen.” Und diese Unzulänglichkeit zeigt sich in den unendlich langsamen Reaktionen der Politiker auf bittere Weise in der augenblicklichen Coronakrise. Am 24. Februar erklärte der Journalist James Hamblin, basierend auf Gesprächen mit dem Harvard Epidemiologen Marc Lipsitch, zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit (5), dass sich ohne Gegenmaßnahmen bis zum Jahresende bis zu 60% der Weltbevölkerung anstecken würden. In Italien hatte man an diesem Tag schon 229 gezählte Fälle. Trotzdem dauerte es noch bis zum 9. März, an dem man 9.172 Fälle zählte, bevor es zum Lockdown im ganzen Land kam. Dabei war die Eskalation vollkommen einfach vorherzusehen, schliesslich bedeutet Verdopplung alle drei Tage, dass sich ueber die 15 Tage zwischen dem 24. und dem 9. die Zahl der Faelle verzweiunddreißigfachen musste. Rechnet man noch die vermehrten Tests ein, ist der beobachtete Faktor 40 also nicht im Mindesten überraschend.

Der Gesundheitskrise folgt die ökonomische auf dem Fuß, und Politikerinnen und Politiker allerorts werden noch viele Entscheidungen erheblicher Tragweite fällen müssen. Dasselbe gilt für Unternehmer genauso wie für Arbeitnehmer, Sparer, Anleger und Eltern. Es gilt für uns alle. Die Ergebnisse aus 15 Jahren Forschung sagen, dass diejenigen diese Entscheidungen auf bessere Weise fällen werden, deren Antwort auf das Seerosenrätsel 47 ist. Weswegen es höchste Zeit ist, unsere kollektive, von Al Bartlett konstatierte, größte Unzulänglichkeit zu überwinden. Wer auf YouTube „exponentielles Wachstum“ in die Suchmaske tippt, findet viele Videos, die sich gut zum Einstieg eignen.

  1. Frederick, Shane (2005) Cognitive reflection and decision making, Journal of Economic Perspectives 19, 25-42.
  2. Fehr, Dietmar, and Huck, Steffen (2015) Who knows it is a game? On strategic awareness and cognitive ability, Experimental Economics 19, 713-726.
  3. Aksamentov, Ivan, Noll, Nicholas, and Neher, Richard (2020) Covid-19 scenarios, siehe auch Dambeck, Holger (2020) Eine Frage von Monaten: Berechnungen zum Lockdown, Spiegel Online, 20.3.2020.
  4. https://www.albartlett.org/presentations/arithmetic_population_energy_video1.html.
  5. Hamblin, James (2020) You're likely to get the coronavirus, The Atlantic, 24.2.2020.
     

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27. März 2020/GK