Digitales Lernen
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Arbeit der Zukunft lernförderlich gestalten

Wie menschliche Kompetenzen mit der Digitalisierung wachsen können

Kathleen Warnhoff

Wie kann Arbeit im Zeitalter der umfassenden Digitalisierung der Produktion zukunftsfähig gestaltet werden? Für die Umsetzung von Industrie 4.0-Konzepten spielen die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten eine weitaus größere Rolle, als allgemein angenommen wird. Denn Digitalisierung bringt nicht immer interessante und anspruchsvolle Tätigkeiten oder lernförderliche Zustände hervor; Lernwiderstände aber können den Prozess der Digitalisierung bremsen. Berufsspezifische Kompetenzen, das zeigen Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, entstehen vor allem beim Lernen im Prozess der Arbeit.

Wie dieses arbeitsintegrierte Lernen gestaltet sein kann, zeigen umfangreiche Fallstudien, die ich im Rahmen meiner Dissertation erarbeitet habe. Von Anfang 2018 bis Anfang 2020 habe ich Expertinnen und Experten, Führungskräfte und Beschäftigte aus verschiedenen Abteilungen mehrerer Industrieunternehmen wie Fertigung, Logistik und Instandhaltung wiederholt im Arbeitsprozess beobachtet und zu ihren Arbeits- und Lernbedingungen befragt. Aus der Analyse der Daten lässt sich folgende Typologie gewinnen, die Arbeitsbedingungen nach dem Grad der Lernförderlichkeit und der Lernwiderstände unterteilt.

Typ A ist der Idealtyp und entsprechend selten in der betrieblichen Realität anzutreffen. Bei ihm bestehen lernförderliche Arbeitsbedingungen, also ein ausgewogenes Verhältnis aus arbeitsintegriertem Lernen und regelmäßigen formalen Schulungen. Die Arbeitsaufgaben geben genügend Freiraum zu selbstgesteuertem Lernen und einen leichten Zugang zu neuen Informationen und zu neuem technischen Wissen. Diese Bedingungen sind vorwiegend bei Fach- und Führungskräften mit einem mittleren bis höheren Qualifikationsgrad zu finden.

Das arbeitsintegrierte Lernen erfolgt bei Typ A entweder über eine Ausdehnung der Aufgaben (job enlargement) oder eine Anreicherung bisheriger Aufgaben (job enrichment), was oft mit einem Anstieg der Anforderungen einhergeht Für diese Beschäftigten eröffnet sich mit der wachsenden Datenbasis eine Möglichkeit zur Aufwertung der Arbeit und zum beruflichen Aufstieg, etwa zum Datenanalysten/zur Datenanalystin. So können zum Beispiel Fachkräfte in der Instandhaltung neue Erfahrungen gewinnen, indem sie neue Aufgaben wie die Datenanalyse von Anlagen und Maschinen übernehmen. Anzumerken ist hier, dass männlichen Beschäftigten von Führungskräften tendenziell eine höhere Technikaffinität zugeschrieben wird. Karriereoptionen erhöhen die ohnehin hohe Lernbereitschaft zusätzlich. Lernwiderstände treten äußerst selten oder nur vorübergehend auf – etwa wenn die Technologien nicht gleich funktionieren.

Am anderen Ende der Skala steht Typ D:Er ist in wenig lernförderlichen Arbeitsfeldern zu finden, in denen der Zugang zu neuen Informationen und zu technischem Wissen erschwert ist und die repetitiven Aufgaben kaum arbeitsintegriertes Lernen ermöglichen. Formales Lernen fehlt überwiegend. Das begünstigt die Wahrnehmung der Risiken von Digitalisierung wie drohender Arbeitsplatzverlust oder Einschnitte im Einkommen oder in der Arbeitszeit. Hier sind Arbeitsfelder zu nennen, in denen vorwiegend Angelernte und ältere Beschäftigte tätig sind – wie etwa in der manuellen Montage und in der Kommission der Logistik. IT-Systeme geben den Beschäftigten hier detaillierte Arbeitsanleitungen vor, in welcher Reihenfolge sie wann das entsprechende Material herausnehmen sollen. Am Ende der Aufgabe erhalten sie Smileys oder Häkchen als Bestätigung, dass sie dem Ablauf sachgerecht gefolgt sind. Um Monotonie bei der Aufgabe zu vermeiden, wechseln manche zeitlich begrenzt in gleichwertige Tätigkeiten (Job-Rotation). Eine zu hohe Rotationsrate erzeugt ausgerechnet bei älteren Beschäftigten erhebliche Lernwiderstände, besonders wenn sie ins kalte Wasser geworfen oder gegen ihren Willen in andere Abteilungen beordert werden.

Zwischen diesen beiden Extremen (hohe Lernförderlichkeit, entsprechend geringe Lernwiderstände auf der einen Seite, geringe Lernförderlichkeit mit hohen Widerständen auf der anderen) finden sich zwei Misch-Typen. Typ B findet weniger lernförderliche Arbeitsfelder vor: Aufgrund eingeschränkter Autonomie im Arbeitsprozess erhalten Beschäftigte wenig Zeit, Lernangebote wahrzunehmen. Ihre Aufgaben enthalten wenig arbeitsintegriertes Lernen. Das ist beispielsweise in Arbeitsfeldern der Fall, in denen Beschäftigte mit automatisierten Fertigungsanlagen oder Lagersystemen mit fahrerlosen Transportsystemen arbeiten, wo die Prozesse zentral von einem Auftragsmanagementsystem gesteuert sind. Aus der Sicht des Managements minimieren solche Systeme Fehlerquellen und reduzieren Laufwege der Beschäftigten. Aus Sicht der Beschäftigten aber nimmt die eigenständige Regulierung des individuellen Arbeitstempos ab, was das Lernen im Prozess der Arbeit erschwert. Zudem fehlt Zeit für den notwendigen Austausch im Kollegium.

Viele Angelernte, aber auch Fachkräfte mit viel Erfahrungswissen arbeiten unter diesen Bedingungen. Trotz widriger Umstände entwickeln diese Beschäftigten mit der Einführung neuer Technologien oft (wieder) eine Lernbereitschaft. Sie sind aufgeschlossen für Neues und gleichzeitig unsicher, welche konkreten Möglichkeiten relevant sind. Eine hohe Technikaffinität wird ihnen eher nicht zugeschrieben; das erzeugt Unsicherheit, ob damit ihr Erfahrungswissen infrage steht. Bei einigen verschiebt sich die Aneignung neuer Wissensbestände ins Private, weil sie ungesehen ihre Unsicherheiten abbauen wollen. Das führt zu Zeitverzögerungen beim Wissenserwerb. Lernwiderstände könnten zusätzlich verringert werden, wenn die Beschäftigten Chancen für arbeitsintegriertes Lernen zur Entwicklung ihrer Kompetenzen erhalten.

Typ C wiederum beschreibt Angestellte in Arbeitsfeldern, die auf den ersten Blick lernförderlich sind, da Beschäftigte leicht Zugang zu neuen Informationen und zu technischem Wissen erhalten. Die Arbeitsaufgaben enthalten viel arbeitsintegriertes Lernen mit viel Raum zum Ausprobieren. Die Beschäftigten sind oft länger in ihrem Arbeitsfeld tätig und verfügen über viel Erfahrungswissen, das sie regelmäßig im Rahmen von formalen und informellen Weiterbildungen entwickeln konnten. Und doch sind hier deutliche Lernwiderstände zu verzeichnen. Die zunehmende Vernetzung von Anlagen erzeugt permanent Prozessdaten. Mit der Einführung neuer Technologien wird die Chance zur Kompetenzentwicklung nicht erkannt. Der geringe Wille, sich an neuen Digitalisierungsprozessen zu beteiligen, könnte mit der Einstellung zusammenhängen, dass Lernen als mühevoller Anpassungszwang wahrgenommen wird.

Ein Beispiel hier ist die Einführung von Predictive Maintenance in der Instandhaltung: Systematische Datenausleitung aus Anlagen dient dazu, Verschleißteile frühzeitig zu erkennen und möglichen Anlagenausfällen entgegenzuwirken. Für weniger erfahrene Arbeitskräfte kann die technologische Unterstützung über IT-Systeme zur Bewältigung komplexer Maschinenstörungen vorteilhaft sein. Erfahrene Instandhalter hingegen lösen unvorhergesehene Probleme innerhalb kurzer Zeit mit ihrem Erfahrungswissen. Nehmen nun die geplanten Aufgaben gegenüber den kurzfristig anfallenden zu, wird der Arbeitsablauf transparenter und öffnet sich für Rationalisierung. Damit gerät aber auch die Selbstbestimmung beim Lernen unter Druck. Eine Absenkung der fachlichen Anforderungen durch akademisch ausgebildete Datenanalyst*innen entwertet zudem wichtige Aufgaben des Instandhaltungsberufs. Für die Instandhaltung bleiben nur noch geplante Wartungen mit Unterstützung von Wissensmanagementsystemen. Lernwiderstände könnten ein Hinweis auf die Entwertung der Arbeit und fehlende Zukunftsperspektiven sein.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus dieser Typologie für die Gestaltung lernförderlicher Arbeit ableiten? Eine zukunftsorientierte Personalpolitik ist auf vielseitige Lernangebote und eine frühzeitige Einbindung der Beschäftigten in Digitalisierungsprojekte angewiesen. Frühzeitige, regelmäßige und differenzierte Abfragen zum Lernbedarf wären ein erster Schritt in diese Richtung, der positive Auswirkungen auf die Lernbereitschaft und die Produktivität zugleich haben könnte. Zur Lernbereitschaft tragen außerdem verbindliche Regeln bei, die den Arbeitsplatz stärker als Lernort anerkennen. Auch faire Zeitfenster und der Austausch über neue technologische Entwicklungen stimulieren die Lernbereitschaft.

Neben technischem Sachverstand sind für erfolgreiche Digitalisierungsprozesse eine ausgeprägte Feedbackkultur und ein partizipativer Führungsstil nötig. Wenn die Beschäftigten zu Wort kommen und zum Ausprobieren ermutigt werden, vermittelt dies Wertschätzung und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Zuschreibungen wie eine ausgeprägte Technikaffinität oder Annahmen zum Alter und Qualifizierungsgrad dagegen fördern Lernwiderstände und sollten daher kritisch geprüft werden. Vorgesetzte sollten sich dessen bewusst sein, dass zwischen den Produktivitäts- und Lernzielen Spannungsverhältnisse bestehen können. Umso mehr ist die Dialogbereitschaft gefragt. So können Lernwiderstände als Folge einer deutlich erhöhten Arbeitsintensität beim Einführungsprozess digitaler Technologien entstehen. Sich parallel zu täglichen Aufgaben im eng getakteten Schichtbetrieb neue Technologien anzueignen, birgt ein Risiko der Überforderung. Potenziale digitaler Technologien werden so eher nicht gesehen. Aber auch eine Verschiebung der Lernprozesse ins Private, die Sorge vor einer Entwertung von Arbeitswissen bei erfahrenen Beschäftigten oder die unzureichende Begleitung in der Wissensaneignung führen zu Lernwiderständen.

Besonders bei erfahrenen Beschäftigten, die in der Vergangenheit erlebt haben, dass Anpassungen nicht in ihrem Sinne waren oder ihre Interventionen nicht wirksam waren, kann es zu einer Verfestigung von Lernwiderständen kommen. Werden diese in Kauf genommen oder bleiben sie unerkannt, schränkt das innovative Lösungen ein; im schlimmsten Fall können Digitalisierungsprojekte sogar scheitern. Ausgefeilte Kommunikationsstrategien in der Anfangsphase, die eine hohe Lernbereitschaft begünstigen, reichen in einer Umsetzungsphase nicht aus, um eintretende Lernwiderstände zu überwinden. Erst wenn Lernende im Mittelpunkt der Industrie 4.0-Konzepte stehen, können sie an der Gestaltung lernförderlicher Arbeit mitwirken und selbstverantwortliche Entscheidungen zum Lernen treffen. Sie sind Experten und Expertinnen für ihre Arbeits- und Lernprozesse. Abfragen zu Lernbedarf, Lerntempo und Lernorten oder Gelegenheiten, über eigene Lernwiderstände zu reflektieren, haben sich bewährt.

Auf dem Weg in die digitale Arbeitswelt sind noch einige Hindernisse zur lernfreundlichen Arbeitskultur zu überwinden. Für die Verzahnung von Lernen und Arbeit ist ein gemeinsam geteiltes Verständnis erforderlich, das die Technologien danach bewertet, ob sie zur Ausweitung oder Verengung von Handlungsfähigkeiten beitragen. Außerdem sind Regulierungen zur Beurteilung von Belastungen beim arbeitsintegrierten Lernen zwingend erforderlich, um Arbeit ohne überbordende Lernzeiten oder Unterbrechungen durch Lernen zu ermöglichen. Die Einbindung betrieblicher Sozialpartner und Sozialpartnerinnen ist für die Industriearbeit ein wichtiger Grundpfeiler zur Aushandlung der Interessensunterschiede zwischen Produktions- und Lernzielen. So könnten Betriebsvereinbarungen systematisch ausgeklügelte Zeitfenster zum Lernen und die Anerkennung von informell erworbenen Kompetenzen mit fairen Vergütungen regeln. Hier sind Politik, Gewerkschaften und Unternehmen gleichermaßen gefragt. Wissenschaftliche Expertise kann durch den Blick von außen unterstützen.

18. März 2021