Extrem beeinflusst
Welche Rolle spielen Familie und Umfeld bei der Radikalisierung von Jugendlichen? Gibt es Gemeinsamkeiten bei der Sozialisation in Bezug auf islamistische und rechtsextreme Gewalt? Der Beitrag von Eylem Kanol und Berivan Kalkan beschreibt die entscheidende Rolle der Sozialisation in der Familie und stellt Analysen aus dem WZB-Protest-Monitoring vor. Es ist Teil des Spitzenforschungsclusters „Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung“ (MOTRA).
Bei einer Personenkontrolle am Hauptbahnhof in Hannover am 26. Februar 2016 hatte Safia S. einen Beamten der Bundespolizei mit einem Messer niedergestochen und lebensgefährlich verletzt. Die Tat verübte sie, weil ihre Ausreise nach Syrien gescheitert war und sie mit dem Angriff den „Islamischen Staat“ unterstützen wollte. Safia war damals gerade 15 Jahre alt. Junge Menschen unter den Anhängern des „Islamischen Staates“ sind kein Einzelfall.
Wir haben biografische Daten von 1.019 sogenannten „Foreign Fighters“ erfasst. Dazu zählen Personen, die zwischen den Jahren 2000 und 2016 aufgrund ihrer radikal-islamistischen Gesinnung in eine Konfliktregion ausgereist sind. Die Informationen über diese Kämpfer und deren Biografien stammen primär aus öffentlich zugänglichen Quellen, wie zum Beispiel Zeitungsartikeln, Reportagen oder Büchern. Die vorliegende Datenbank erfasst „Foreign Fighters“ aus Frankreich (327 Personen), Deutschland (322 Personen) und Großbritannien (370 Personen).
Derzeit erheben wir auch Biografien von Täter*innen rechtsextremistischer Gewalt. Diese Erhebung findet im Rahmen des WZB-Protest-Monitorings statt. Es ist Teil des Spitzenforschungsclusters „Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung“ (MOTRA), das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das Bundesministerium für Inneres (BMI) gefördert wird. Bisher konnten Profile von 56 rechtsextremistischen Tätern tödlicher Gewalt aus Deutschland, die zwischen 2000 und 2020 Taten ausgeführt haben, identifiziert werden. Anhand dieses phänomen-übergreifenden Ansatzes können wir die Verallgemeinerbarkeit unserer Erkenntnisse auf andere Formen von Extremismus belegen. In unserem Beitrag stellen wir die Ergebnisse unserer Analysen zu den biografischen Daten der ausgereisten „Foreign Fighters“ vor und ergänzen sie mit unseren Befunden zu den rechtsextremistischen Tätern.
Der jüngste Ausgereiste nach Syrien ist erst 11 Jahre alt
Insgesamt lag das Durchschnittsalter der „Foreign Fighters“ zum Zeitpunkt der Ausreise bei 25 Jahren; mehr als die Hälfte waren bei ihrer Ausreise jünger als 25 Jahre. Der jüngste Ausgereiste in unserer Erhebung ist der 11-jährige Joe G. D. aus Großbritannien und der 11-jährige Rayan aus Frankreich. Joes Mutter Sally J., eine Konvertitin, die zum Aushängeschild des „Islamischen Staates“ geworden ist, brachte ihren Sohn dazu, nach Syrien auszureisen. Gleichermaßen wurde Rayan durch seinen extremistischen Stiefvater Sabri E. veranlasst, nach Nordsyrien zu reisen, wie auch seine französische Mutter und ihre insgesamt vier Kinder. In beiden dargelegten Fällen nehmen die Eltern eine wichtige Funktion bei der Radikalisierung der Kinder ein. Das ist auch bei Safia S. der Fall. Ihre Mutter hatte sie streng religiös erzogen. Schon als Kind war sie in der salafistischen Szene in Deutschland bekannt. In zahlreichen YouTube-Videos erscheint das Mädchen im Grundschulalter an der Seite des Salafisten-Predigers Pierre Vogel. Darin beantwortet sie unter anderem Fragen und liest aus dem Koran vor.
Mehr als ein Drittel der Ausgereisten wurde innerhalb der Familie radikalisiert
Familienmitglieder und Freunde sind im Radikalisierungsprozess der „Foreign Fighters“ von zentraler Bedeutung. Hierauf deutet der Kontext der Radikalisierung in den Biografien hin. Uns liegen Informationen zum Radikalisierungsprozess von circa 70 Prozent der Ausgereisten vor. In circa 31 Prozent der von uns untersuchten Fälle wurde der Weg zum Extremismus durch das familiäre Umfeld begünstigt. Beim Rechtsextremismus spielt der familiäre Kontext ebenfalls eine entscheidende Rolle: Hier radikalisierten sich etwa 20 Prozent innerhalb der Familie.
Aber wie radikalisieren sich Kinder und Jugendliche in der Familie? Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess, wobei Kindheit und Jugend ausschlaggebend sind. In dieser Phase findet die primäre Sozialisation durch die Familie statt. Soziale Erwartungen werden erlernt und grundlegende gesellschaftliche Werte- und Normensysteme geformt und internalisiert. Das kann durch beabsichtigtes Einwirken geschehen, also durch die Erziehung und Bildung der Jugendlichen, aber auch durch das gemeinsame Leben in der Gesellschaft. Stabile Interaktionen sind für die Entstehung und Internalisierung von sozialen Normen Voraussetzung. Zum einen prägen diese das Denken und Handeln des Individuums nachhaltig, zum anderen orientiert sich, davon ausgehend, die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen an denen der Eltern. Während dieser Entwicklung sind die Werte, das Selbstbild und die Identität noch ungefestigt. Somit sind Jugendliche empfänglicher für Beeinflussungen. Im selben Maße wie allgemeine Werte und Normen können auch radikal-religiöse Ideen, Werte und Normen weitergegeben werden.
Um die Rolle der Religiosität im Elternhaus spezifischer zu analysieren, haben wir die Religiosität der Eltern untersucht. Dabei haben wir zwischen drei Kategorien unterschieden: nicht praktizierende Eltern, praktizierende Eltern und radikal-islamistische Eltern. Die erste beschreibt Eltern, die ihre Religion gar nicht ausüben oder säkular sind. Religiöse Eltern praktizieren ihre Religion, indem sie beispielsweise eine Moschee besuchen oder indem die Mutter ein Kopftuch trägt. Die Zuordnung zur Kategorie der islamistischen Eltern wurde nur dann verwendet, wenn die Quellen ausdrücklich darauf verwiesen haben, dass die Eltern als Anhänger des radikalen Islams, als Islamisten oder Salafisten bekannt waren. Wenn die Eltern der Ausgereisten selbst zum islamistischen Spektrum gehören, kann angenommen werden, dass sie als Sozialisationsinstanz ihrer Kinder zu deren Radikalisierung wesentlich beigetragen haben. In 240 Fällen (24 Prozent) war mindestens ein Elternteil religiös. In mehr als einem Drittel dieser Fälle wurde ein religiöses Elternteil als Anhänger oder Anhängerin einer radikalen Auslegung des Islams beschrieben.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich in der Analyse der Biografien der rechtsextremistischen Täter*innen ab. Hier haben wir zwischen rechtsextremistischen und nicht rechtsextremistischen Eltern unterschieden und konnten Informationen zu neun Fällen (15 Prozent) ermitteln. Innerhalb dieser Fälle hatte rund ein Drittel ein rechtsextremistisches Elternteil. Weil der Anteil der Personen, über die wir keine Informationen haben, relativ groß ist, sollten diese Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden. Dennoch deuten sie darauf hin, dass die Eltern auch bei der rechtsextremen Radikalisierung maßgebend sind.
Insgesamt veranschaulichen die Ergebnisse der biografischen Daten, dass tatsächlich ein hoher Anteil der sogenannten „Foreign Fighters“ in islamistischen Familien verwurzelt und sozialisiert worden ist. Der deutsche Verfassungsschutz schätzt, dass es in Deutschland rund 25.000 potenzielle Islamisten gibt. Nach diesen Schätzungen machen Islamisten weniger als 1 Prozent der muslimischen Bevölkerung in Deutschland aus (für Schätzungen zur Zahl der in Deutschland lebenden Muslime sei auf die Analyse von Anja Stichs verwiesen: Wie viele Muslime leben in Deutschland?). Wenn bedacht wird, dass ein Drittel der ausländischen Kämpfer mindestens ein islamistisches Elternteil haben, stammen diese überproportional häufig aus islamistischen Familien.
Weitere Faktoren machen Jugendliche anfällig für Radikalisierung
Was trägt noch dazu bei, dass sich Jugendliche radikalisieren? Jugendliche befinden sich in einem kritischen Stadium ihrer Entwicklung, die durch eine Reihe lebensphasenspezifischer Faktoren gekennzeichnet ist. Zusätzlich zur familiären Sozialisation haben soziale Beziehungen eine prägende Rolle. Sozial schwache Bindungen und Interaktionen mit Freunden und Familie sowie mangelndes oder marginalisiertes Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft können „zum Wunsch nach Rache und Gewalttätigkeit“ führen und so Radikalisierung mitbedingen. Darüber hinaus hebt sich die Gruppe der Jugendlichen von anderen sozialen Gruppen und der Gesamtgesellschaft durch spezifische Zuschreibungen und Merkmale ab. Für Jugendliche sind idealistische, also eher sinnstiftende Haltungen wichtig und sie sind risikobereiter. Sie neigen im Vergleich zu Erwachsenen stärker dazu, Grenzen zu überschreiten und sich impulsiv und riskant zu verhalten.
Diese Risikobereitschaft ist ein wichtiger Teil ihres Weges, um ihre Identität zu finden und selbstständige junge Erwachsene zu werden. Zur Risikobereitschaft von Jugendlichen gibt es eine Reihe von Studien, die sich beispielsweise auf neurologische Aspekte beziehen und betonen, dass das sich entwickelnde Gehirn eine entscheidende Rolle spielt. Somit begeben sich Jugendliche bereitwilliger in Situationen mit ungewissem Ausgang. Zum einen sind sie weniger gewillt, sich zu informieren, um die Risiken ihres Verhaltens abwägen zu können, andererseits setzen sie sich weniger mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen auseinander. Außerdem sind sie offener für neue Ideen und Erfahrungen, weshalb die Suche nach neuen Erfahrungen treibend sein kann.
Die beschriebenen Sozialisationsaspekte und die vermittelten Werte und Normen in Familie und Umfeld können einen Sog ausüben. Es besteht in der Jugendphase zwischen Sozialisation und Alter eine Wechselwirkung. Deutlich wird: Diese Phase stellt eine Umbruchzeit mit hohem Belastungspotenzial dar, die Radikalisierungsprozesse begünstigen kann. In unserer empirischen Studie der Biografien untersuchten wir die Kontexte der Radikalisierung und die Rolle der Eltern bei der radikal-religiösen Sozialisation von Jugendlichen. Zusammenfassend deuten unsere Ergebnisse darauf, dass der familiäre Kontext phänomen-übergreifend einen Risikofaktor für die Radikalisierung darstellt. Leider erlauben unsere aktuellen Daten keine spezifischen Analysen der beschriebenen weiteren Belastungsfaktoren. Im Zusammenspiel mit einer problematischen Sozialisation können diese lebenslaufspezifischen Faktoren jedoch Radikalisierungsprozesse bei Jugendlichen weiter fördern. In den nächsten Schritten des MOTRA-Projekts werden wir uns in Kooperation mit der Universität Hamburg und anhand einer repräsentativen Umfrage unter jungen Menschen in Deutschland genau diesen Themenkomplexen widmen, um die Wechselwirkungen der Belastungsfaktoren besser zu verstehen.
Literatur
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Campelo, Nicolas/Oppetita, Alice/Neau, Françoise/Cohen, David/Bronsard, Guillaume: „Who Are the European Youths Willing to Engage in Radicalisation? A Multidisciplinary Review of Their Psychological and Social Profiles“. In: European Psychiatry, 2018, Jg. 52, S. 1-14.
Ecarius, Jutta/Eulenbach, Marcel/Fuchs, Thorsten/Walgenbach, Katharina: Jugend und Sozialisation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.
Kanol, Eylem: „Contexts of Radicalization of Jihadi Foreign Fighters from Europe“. In: Perspectives on Terrorism, 2022, Jg. 16, H. 2, 45-62.
Stichs, Anja: Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. Dezember 2015. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016.
Streeck-Fischer, Annette: „‚Geil auf Gewalt‘. Psychoanalytische Bemerkungen zu Adoleszenz und Rechtsextremismus“. In: Psyche, 1992, Jg. 46, H. 8, S. 645-668.
21.09.2022
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