Blasen in einer Menschenmenge

Gegen Desinformation

Die Rolle von Zivilgesellschaft und kollektiver Intelligenz im brasilianischen Wahlkampf

Gezielte Desinformation bedroht immer häufiger die Demokratie, besonders bei den Wahlen. Wie kann man dem vorbeugen? Wie lassen sich falsche Informationen bekämpfen? Die Regulierung von Plattformen reicht oft nicht aus, um die Gefahren der Desinformation für politische Prozesse einzudämmen. Thamy Pogrebinschi, Maria Dominguez und Mariana Borges Martins da Silva haben am Beispiel Brasiliens untersucht, welche Rolle die Zivilgesellschaft beim Kampf gegen Desinformation spielen kann.

Desinformation ist in den letzten Jahren zu einer der größten Herausforderungen für die Demokratie geworden. Die absichtliche Verbreitung von Unwahrheiten – oft mit nicht demokratischen Zielen und zugunsten populistischer und rechtsextremer Parteien und Politiker*innen – gewinnt in den letzten Jahren zunehmend Einfluss auf Wahlen, Referenden, Parteiunterstützung und politisches Vertrauen, wie die Autorinnen in ihrem Beitrag zeigen. Den politischen Gefahren, die damit einhergehen, ist mit den üblichen, meist staatlichen Maßnahmen allein nicht beizukommen.

Viel wird geforscht zu den Risiken und Auswirkungen von Desinformation in Demokratien sowie zur Plattform-Governance und der Regulierung von Inhalten. Die Hoffnung ist groß, dass nationale und internationale Gesetzgebungs- und Regulierungsbehörden in der Lage sein werden, den durch Desinformation verursachten politischen Schaden einzudämmen. Weniger beleuchtet ist demgegenüber die Rolle, die anderen Akteur*innen und Aktionen der Gegeninformation zukommt.

Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft zur Bekämpfung von Desinformation werden in Europa und anderswo zahlreicher. Jüngste Berichte zeigen, dass es dabei vor allem um Faktenprüfung, die Stärkung von Medienkompetenz, investigativen Journalismus und Forschung geht. Auch die Forschung zu diesem Thema wächst, aber noch ist sehr wenig darüber bekannt, wie die Zivilgesellschaft der Desinformation entgegenwirken kann, die politische Prozesse und Institutionen, insbesondere Wahlen, angreift.

Dieser Artikel nimmt Brasilien in den Blick – ein Land, das in den vergangenen Jahren stark von Desinformation betroffen war, vor allem weil der rechtsextreme autoritäre Präsident Bolsonaro an der Spitze stand. Wir wollen wissen, welche Rolle die Zivilgesellschaft bei der Bekämpfung von Desinformation in Wahlprozessen spielt und wie sich diese Rolle durch die Anwendung von kollektiver Intelligenz in digitalen Technologien verändert.

Die brasilianischen Wahlen von 2022

Als der brasilianische Präsidentschaftswahlkampf im August 2022 offiziell begann, hofften viele, dass das Land besser auf die Bekämpfung von Fehlinformationen vorbereitet sein würde als im Wahlkampf von 2018. Vor vier Jahren erlebten die Menschen in Brasilien im Wahlkampf eine Lawine von gefälschten Nachrichten. Nach diesen Erfahrungen wurden Institutionen wie die Justiz und der Kongress, aber auch die Presse und die Zivilgesellschaft aktiv, um zu vermeiden, dass sich dieses Szenario wiederholt. Anfang 2022 vereinbarte die Justiz eine Aktion mit Social-Media-Plattformen, um die Verbreitung falscher Inhalte zu stoppen. Während des Wahlkampfs handelte das Oberste Wahlgericht Brasiliens schnell: Es erließ Hunderte von Entscheidungen, in denen Social-Media-Plattformen aufgefordert wurden, unzutreffende Inhalte zu entfernen und Kanäle und Profile zu verbieten, die Lügen über den Wahlprozess verbreiteten.

Doch diese Bemühungen reichten nicht aus, um Fake News effektiv zu bekämpfen. Ein möglicher Grund ist, dass diese raffinierter geworden sind. Schon 2018 wurden offene Lügen über Kandidatinnen und Kandidaten verbreitet, besonders im Bereich von Moral. Im Wahlkampf von 2022 traten zu solchen offensichtlichen Lügen ausgefeiltere Desinformationsstrategien hinzu – zum Beispiel wurden irreführende Statistiken und falsche Tatsachenbehauptungen genutzt, um Zweifel an wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen zu wecken. Jair Bolsonaro wollte mit irreführenden Statistiken belegen, dass die Entwaldung während seiner Regierungszeit nicht zugenommen habe. Er benutzte auch Bilder seiner überfüllten Wahlkampfkundgebungen, um Zweifel an den Umfragen zu wecken, die durchgehend vorhersagten, dass er die Wahl verlieren würde.

Diese Verfeinerung der Strategien zeigt, wie wichtig es ist, Desinformation nicht nur auf der staatlichen Ebene anzugehen und nicht bei der Regulierung von Inhalten und der Prüfung von Fakten stehen zu bleiben.

Die Bedeutung kollektiver Intelligenz

In Brasilien sind soziale Medien weit verbreitet, und in den letzten Jahren haben rechtsextreme Gruppen zunehmend Internetplattformen und Messaging-Dienste zur Desinformation genutzt. Allerdings hat Brasilien schon lange eine sehr aktive Zivilgesellschaft, die in den letzten Jahren durch die Verbreitung digitaler Technologien zu einem wichtigen Motor demokratischer Innovationen wurde.

Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern hat auch in Brasilien die Zivilgesellschaft während der Covid-19-Pandemie vor allem kollektive Intelligenz genutzt, um auf soziale und politische Probleme der Gesundheitskrise zu reagieren. In Ermangelung wirksamer Maßnahmen von staatlicher Seite wurden auf zivilgesellschaftlicher Ebene Informationen und Daten gesammelt und überprüft, Probleme lokalisiert, Nachfrage und Angebot verknüpft, es wurden Maßnahmen implementiert und überwacht und gefährdete Gruppen unterstützt.

Kollektive Intelligenz nutzt digitale Technologien, um Wissen zu generieren. Informationen, Fachwissen und Daten werden beschafft, gesammelt und geteilt, um öffentliche Probleme anzugehen und angemessene Antworten zu finden. Immer mehr zivilgesellschaftliche Initiativen auf der ganzen Welt versuchen, Desinformation zu bekämpfen, indem sie mithilfe von kollektiver Intelligenz Informationen überprüfen. Es gibt erste Indizien dafür, dass kollaboratives Wissen ein wirksames Instrument gegen die Verbreitung von Fake News sein kann.

Wir haben zivilgesellschaftliche Initiativen gesucht, die digitale Technologien eingesetzt haben, um mit kollektiver Intelligenz gegen Desinformation vorzugehen. Ihre Aktionen haben wir verschlagwortet und analysiert. Wir konnten für 2022 mindestens 70 solcher Initiativen verzeichnen, teils aus bereits bestehenden Organisationen der Zivilgesellschaft, teils neu gegründete. Einige dieser Organisationen oder Initiativen haben zuvor gegen Desinformation im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gekämpft. Die gesammelten Daten haben wir durch Interviews mit Führungskräften einiger dieser Organisationen ergänzt. Wir haben fünf Strategien gefunden, wie digitales kollaboratives Wissen gegen Desinformation eingesetzt wird.

Erstens: Genaue Informationen und Daten generieren

Das Sammeln von Informationen über die Themen, die Gegenstand von Fake News waren, war eine der Hauptstrategien der brasilianischen Zivilgesellschaft zur Bekämpfung von Desinformation im Wahlkampf. Als zum Beispiel falsche Informationen über Wahlumfragen und Wahlmaschinen in Umlauf kamen, sammelten zivilgesellschaftliche Initiativen belastbare Informationen über die Geschichte der brasilianischen Wahlen, über die Funktionsweise von Wahlmaschinen, über die Besonderheiten von Wahlprozessen und die wissenschaftlichen Hintergründe von Meinungsumfragen. Ein Beispiel ist Politize, eine digitale Plattform, die von einem Netzwerk aus Journalisten, Studierenden und Akademikerinnen geschaffen wurde.

Zweitens: Fehlinformationen erkennen

Eine Strategie, um Desinformationen zu verbreiten, ist der Einsatz von Bots in sozialen Medien. Automatisierte Konten können Informationen breit streuen. Sie stören öffentliche Debatten durch koordinierte Aktionen, die aussehen, als stünden dahinter organische Bewegungen gewöhnlicher Bürger. Um Bots zu identifizieren, wurde eine Initiative namens Pegabot („Fang den Bot“) gegründet, die öffentliche Informationen des Kurznachrichtendienstes Twitter verwendet. Bürger*innen können das Tool nutzen, indem sie ein Twitter-Konto eingeben. Die Plattform berechnet dann die Wahrscheinlichkeit, mit der es sich um einen Bot und kein echtes Konto handelt.

Die Initiative wurde zwar schon 2018 ins Leben gerufen, aber während des jüngsten Wahlkampfs arbeitete sie verstärkt mit Programmierern, Journalistinnen, Designern, Forschenden, Studierenden und Fachleuten zusammen und suchte in Hackathons kreative Lösungen zur Bekämpfung von Fehlinformationen. Pegabot ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern, Fehlinformationen selbst zu erkennen. Social-Media-Nutzer*innen werden so zu aktiven Kämpfer*innen gegen Desinformationen: Sie tragen dazu bei, dass nicht authentisches Verhalten aufgedeckt wird und schädliche Inhalte nicht weiterverbreitet werden.

Drittens: Fakten überprüfen

Der Faktencheck ist eine der bekanntesten Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation. In Europa ist dies die am weitesten verbreitete Strategie in Kreisen der Zivilgesellschaft. In Brasilien wurden seit 2018 mehrere hierauf spezialisierte Organisationen gegründet, in denen Journalisten und Spezialistinnen zusammenarbeiten. Diese Organisationen nutzen auch den Input von Bürgern, die verdächtige Social-Media-Inhalte melden. Während der TV-Debatten zwischen den Präsidentschaftskandidaten überprüften diese Organisationen Fakten in Echtzeit und arbeiteten dafür online zusammen.

Auch Organisationen der Zivilgesellschaft, die nicht aus dem investigativen Journalismus kamen, starteten Initiativen zur Überprüfung von Informationen im Wahlkampf. Vor allem das Engagement von Umweltorganisationen war bemerkenswert. Diese Organisationen reagierten sowohl auf gefälschte Nachrichten über Bolsonaros Umweltpolitik als auch auf die Verbreitung von Desinformation unter der im Amazonas lebenden Bevölkerung. Ein Zusammenschluss von Umweltorganisationen (Observatório do Clima) startete die Initiative Fakebook.eco, die Informationen zu Umweltfragen prüfte. Andere Initiativen wie Protocolo Ipê führten Umweltorganisationen, Factchecking-Initiativen und lokale Gemeinschaften zusammen, um im Amazonasgebiet verbreitete Desinformation zu überwachen und zu korrigieren.

Viertens: Gegenerzählungen schaffen

In einem Land, in dem Rassismus tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, in dem 56 Prozent der Bevölkerung Schwarz sind, aber nur 21 von 513 Abgeordneten, bedeutet die Bekämpfung von Desinformation vor Wahlen auch, Gegenerzählungen zu schaffen, die Schwarze sichtbar und damit die Wahl von Schwarzen denkbar machen. Gleiches gilt für Frauen, die ständig Ziel geschlechtsspezifischer politischer Gewalt sind und in der letzten Legislaturperiode nur 77 von 513 Sitzen im Kongress erringen konnten. Zivilgesellschaftliche Initiativen, die Informationen über diese Gruppen bereitstellen und Kandidaturen aus ihren Reihen fördern, schaffen Gegennarrative zu den dominanten Narrativen, die negative und verzerrte Bilder verbreiten, und fördern so die Vielfalt der politischen Repräsentation.

Im vergangenen Wahlkampf entstanden digitale Plattformen, die die Biografien, Ideen und Vorschläge von Kandidaten sichtbar machen sollten, die sich selbst als Frauen, Schwarze, schwarze Frauen, LGBTQIA+ und Indigene definierten. Andere Initiativen verbreiteten Informationen über Kandidaten, die bestimmte politische Themen vorantrieben, die im parlamentarischen Prozess zu kurz kamen, wie etwa den Kampf gegen den Klimawandel. Der Mangel an zuverlässigen und sichtbaren Informationen zu diesen Gruppen und politischen Themen ist auch eine Form der Desinformation.

Fünftens: Zuverlässige Daten zugänglich machen

Die brasilianischen Wahlen von 2022 waren die teuersten in der Geschichte des Landes. Nahezu 1 Milliarde Euro aus öffentlichen Mitteln wurde für politische Kampagnen verwendet. Es gibt in Brasilien eine lange Tradition ausgeklügelter Korruptionssysteme in der Parteienfinanzierung. Die Überwachung der öffentlichen Ausgaben in Wahlkämpfen ist eine Herausforderung, da es um riesige Geldbeträge aus verschiedenen Quellen geht.

Desinformation nimmt noch zu, wenn verlässliche Daten fehlen. Um die Wahlkampffinanzierung transparenter zu machen, hat eine zivilgesellschaftliche Organisation ein Dashboard (Siga o Dinheiro) entwickelt, das es möglich macht zu verfolgen, wie die Ressourcen auf die 32 politischen Parteien verteilt wurden. Die interaktive Plattform verwendet öffentliche Daten, die vom Obersten Wahlgericht des Landes erhoben wurden. Sie macht Daten zur Wahlkampffinanzierung für normale Bürger zugänglich, indem sie interaktive Datenvisualisierungen und benutzerfreundliche Tools für die Datenanalyse bereitstellt.

Die Ausweitung der Strategien gegen Desinformation

Es ist bekannt, dass die gesetzliche Regulierung von Internetplattformen und sozialen Medien und der Einsatz künstlicher Intelligenz zur Kontrolle von Informationen schwierig sind. Da aber der demokratische Schaden durch Desinformation überall wächst, muss das Spektrum an Antworten und Akteuren erweitert werden. Hier spielt die Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle – und zwar in Demokratien ebenso wie in populistischen und autoritären Systemen, in denen die Regierung selbst eine Quelle der Desinformation sein kann. Es ist bekannt, dass populistische Führer den Staatsapparat nutzen, um Fehlinformationen in Umlauf zu bringen. In Ländern, in denen der zivilgesellschaftliche Raum nicht von autoritären Regierungen ausgehöhlt wurde, können Ansätze von unten und Initiativen der Zivilgesellschaft eine demokratisierende Rolle im Kampf gegen Desinformation spielen.

Das in diesem Artikel untersuchte Beispiel Brasilien unterstreicht die Bedeutung der Zivilgesellschaft und der kollektiven Intelligenz im Kampf gegen Desinformation. Es zeigt auch, dass Desinformation mehr ist als die Verbreitung gefälschter Nachrichten. Desinformation umfasst auch das Fehlen genauer Informationen, die mangelnde Sichtbarkeit unterrepräsentierter Gruppen und die Unzugänglichkeit öffentlicher Daten. Daher sollten auch die Reaktionen der Zivilgesellschaft auf Desinformation mehr beinhalten als die Überprüfung von Fakten und die Korrektur irreführender Informationen. Es müssen Informationen geschaffen und kommuniziert werden – im Zusammenspiel von Wissenschaft, Bürger*innen und lokalen Gemeinschaften. Es muss gesichert sein, dass unterrepräsentierte Gruppen und unterschätzte politische Themen sichtbar gemacht werden und dass öffentliche Daten zuverlässig und zugänglich sind. 

19.12.2022
 

Zur Bildbeschreibung: Oft ist die Rede von Blasen, wenn Menschen immer mehr in Gruppen mit ähnlichen Einstellungen leben, ohne Berührung zu anderen Milieus. Für dieses mittels Künstlicher Intelligenz erzeugte Bild nutzte Pavel Nekoranec die Software Midjourney. Eingegeben hat er folgende Stichworte: „diverse people inside of floating bursting bubbles, translucent holographic bubbles, some bubbles bursting, futuristic human interaction, under the high density of ­population, change the social habit to fulfil population, insane detail, stage cinema lighting, photorealistic, 4K, octane render --ar 2:3 --test –creative”. Mehr zu den Fotos finden Sie hier (PDF). 

in PDF zum Beitrag finden Sie hier: https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2022/f-25201.pdf

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