Pressestatement von Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesminister Robert Habeck und Bundesminister Christian Lindner zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Jens Gyarmaty/laif

Wie die Schuldenbremse zur Bedrohung der Demokratie wird

Das Spardiktat verstärkt die Politikverdrossenheit gegenüber den etablierten Parteien

Es war ein Paukenschlag: Am 15. November 2023 erklärte das Bundesverfassungsgericht den zweiten Nachtragshaushalt für verfassungswidrig. Die Bundesregierung musste den Haushalt erheblich umplanen, plötzlich fehlten 60 Milliarden Euro. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse. Mark Copelovitch und Daniel Ziblatt machen sich in ihrer Analyse Gedanken über die Wirkung dieser Auflagen. Für sie ist die Schuldenbremse nicht nur ein Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung. Sie sehen in ihr vielmehr eine Gefahr für die Demokratie in Deutschland und Europa.

Normalerweise denken wir, dass Demagog*innen mit ihrer gewaltverherrlichenden Rhetorik die Demokratie bedrohen. Aber manchmal sind es scheinbar harmlose Regeln des politischen Spiels, die eine Demokratie für genau diese Sorte von politischen Akteuren anfällig machen können. Die Regelung der Staatsfinanzen – vor allem ein übertriebenes Festhalten an der Haushaltsdisziplin – hat sich schon in der Vergangenheit als Gefahr für die Demokratie erwiesen. Heute gibt es Grund zur Sorge, dass Deutschlands Schuldenbremse nicht nur schlechte Wirtschaftspolitik ist, sondern auch die Widerstandsfähigkeit der Demokratie in Deutschland und Europa schwächt.

Aber der Reihe nach: Am 15. November 2023 erklärte das Bundesverfassungsgericht den zweiten Nachtragshaushalt der Bundesregierung für das Jahr 2021 für verfassungswidrig, weil er gegen die in den Artikeln 115 und 109 des Grundgesetzes verankerte Schuldenbremse verstößt. Sie sieht eine strukturelle und eine konjunkturelle Komponente vor. Die strukturelle Komponente beschränkt die Möglichkeit der Bundesregierung zur Neuverschuldung auf jährlich 0,35 Prozent des nominellen Bruttoinlandsprodukts. Die konjunkturelle Komponente erlaubt die Aufnahme zusätzlicher Schulden während eines konjunkturellen Abschwungs, die im Falle einer Besserung der konjunkturellen Lage wieder zurückzuführen sind. Zudem gibt es eine Ausnahmeregel („escape clause“), die es dem Bundestag mit einfacher Mehrheit erlaubt, die Schuldenbremse in außergewöhnlichen Notsituationen auszusetzen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stoppte den Plan der Bundesregierung, nicht verwendete Pandemiemittel zur Finanzierung von Klimainvestitionen umzuwidmen, wodurch im Bundeshaushalt eine Lücke von 60 Milliarden Euro entstand. Der Bundestag beschloss daraufhin mit 414 Ja-Stimmen, 242 Nein-Stimmen und 9 Enthaltungen die Aussetzung der Schuldenbremse für das Jahr 2023. Die Bundesregierung begründete den Schritt vor allem mit einer außergewöhnlichen Notlage als Folge des Ukraine-Krieges. Nach angespannten Verhandlungen hat die Ampel-Koalition für den Haushalt 2024 schließlich eine Einigung erzielt, die die Schuldenbremse für 2024 wieder einführt und Kürzungen beim Klimatransformationsfonds und anderen Teilen des Haushalts vorsieht.

Die Schuldenbremse ist in Deutschland sowohl unter Expert*innen als auch bei den Wähler*innen sehr umstritten. Nach einer aktuellen ZDF-Umfrage sind 61 Prozent der Deutschen gegen eine Lockerung der Schuldenbremse. Hinter dieser hohen Popularität des Instruments verbergen sich jedoch tiefe Gräben innerhalb und außerhalb der Ampel-Koalition von Bundeskanzler Olaf Scholz. Auf die Frage, ob die Schuldenbremse gelockert werden soll, antworteten 55 Prozent der SPD-Wähler*innen und 67 Prozent der Grünen-Wähler*innen mit „Ja“. Im Gegensatz befürworteten nur 31 Prozent der FDP-Wähler*innen eine Lockerung; in der Anhängerschaft der CDU/CSU waren es 20 Prozent und bei der AfD 14 Prozent. Auch in einer aktuellen Umfrage von Ifo-Institut und FAZ unter 187 deutschen VWL-Professor*innen sprach sich die Hälfte der Befragten für eine Reform (44 %) oder Abschaffung (6 %) der Schuldenbremse aus, während fast der gleiche Anteil (48 %) die beiden Optionen jeweils ablehnte. Gleichzeitig geht eine knappe Mehrheit (52 %) davon aus, dass sich die Entscheidung des Verfassungsgerichts kurzfristig (in ein bis zwei Jahren) negativ auf die Wirtschaft (52 %) und negativ auf die politische Stabilität (59 %) auswirken wird.

Dass die Schuldenbremse so stark polarisiert, macht deutlich, warum sie eine große Gefahr für die Demokratie darstellt – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Die von der Schuldenbremse geforderten Haushaltskürzungen und der Verzicht auf staatliche Investitionen sind höchst unpopulär, führen zur politischen Spaltung und bürden der bereits angeschlagenen deutschen Wirtschaft erhebliche wirtschaftliche Kosten auf. Darüber hinaus wird die Schuldenbremse angesichts der Rolle Deutschlands als größtes und wichtigstes Mitglied der Eurozone beträchtliche Auswirkungen auf EU-Ebene haben, die die langfristige Stabilität der Eurozone ernsthaft bedrohen. In Anbetracht der wachsenden Besorgnis über die Erfolge der AfD in den Wahlumfragen und des allgemeinen Problems des EU-internen Autoritarismus stellt die Schuldenbremse eine weitere Hürde für die demokratische Stabilität in den kommenden Jahren dar.

Die Schuldenbremse ist schlecht für die Wirtschaft

Als Reaktion auf jede neue Wirtschaftskrise wird von Politik und Wählerschaft oft die Ansicht vertreten, dass der Staat – wie ein Privathaushalt – den Gürtel enger schnallen und die Ausgaben kürzen muss, um Schulden abzubauen und den Haushalt auszugleichen. Leider wissen wir aus einer umfangreichen Literatur, die Daten über Raum und Zeit analysiert, dass diese Art von finanzieller Zurückhaltung selten funktioniert. Kurzfristig geht sie mit einem langsameren Wirtschaftswachstum und größerer Ungleichheit einher. Langfristig führt dieser „prozyklische“ Ansatz eher zu einem Anstieg als zu einer Verringerung der Staatsverschuldung. Selbst der Internationale Währungsfonds, der in Zeiten ökonomischer Krisen seit jeher eine Austeritätspolitik propagiert, kommt zu dem Ergebnis, dass Haushaltskonsolidierung in hochentwickelten Volkswirtschaften durchschnittlich nicht zu einer Verringerung des Schuldenstands im Verhältnis zum BIP führt. Ebenso gibt es nur wenige oder gar keine Hinweise darauf, dass hohe Schuldenstände das Wirtschaftswachstum verringern. Vergleicht man die politischen Reaktionen und die Erholung von der coronabedingten Wirtschaftskrise in den USA mit der Situation in Deutschland und der Eurozone, so wird erneut deutlich, dass eine offensivere Fiskalpolitik sowohl mit einem stärkeren Wirtschaftswachstum als auch mit einem Rückgang des Schuldenstands im Verhältnis zum BIP zusammenzuhängen scheint.

Die Schuldenbremse, die der Regierung weitgehend die Möglichkeit zu einer antizyklischen Finanzpolitik nimmt, steht in direktem Widerspruch zu diesen Erkenntnissen. Sie schadet der Wirtschaft kurzfristig und verringert mittel- und langfristig die Aussichten auf Wirtschaftswachstum, weil sie die Kreditaufnahme begrenzt und die Regierung zu unpopulären Haushaltskürzungen zwingt. In Deutschland werden die drohenden Haushaltskürzungen im Jahr 2024 und darüber hinaus den ohnehin schon eklatanten Mangel an Investitionen in die Infrastruktur noch weiter verschärfen und die Möglichkeiten einschränken, in Klimapolitik, Verteidigung und andere Bereiche zu investieren, wo dies dringend geboten ist. Dies wird dringend benötigte öffentliche Investitionen verzögern und das Wachstum weiter verlangsamen, obwohl die deutsche Wirtschaft aufgrund steigender Energiekosten, einer alternden Gesellschaft, Exportrückgängen in den wichtigsten Branchen, einer immer stärker knirschenden staatlichen Bürokratie und Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Digitalisierung bereits mit starkem Gegenwind zu kämpfen hat.

Die Schuldenbremse ist auch schlecht für die Stabilität des Euro. Als Währungsunion ohne politische und fiskalische Union kämpft die Eurozone seit ihrer Gründung mit dem Problem großer struktureller Ungleichgewichte zwischen Mitgliedstaaten mit großen Haushalts- und Leistungsbilanzüberschüssen und relativ geringer Staatsverschuldung (wie Deutschland und die Niederlande) und solchen mit großen Defiziten und hoher Verschuldung (wie Italien und Griechenland). Obwohl die Ängste vor einem Auseinanderbrechen der Eurozone seit der „Grexit“-Debatte im Jahr 2015 nachgelassen haben, bleiben die wichtigsten Ungleichgewichte und institutionellen Schwächen bestehen und stellen weiterhin eine langfristige Bedrohung für die Eurozone dar. Einzelstaatliche Maßnahmen wie die deutsche Schuldenbremse stellen die Eurozone vor ernsthafte Probleme, da sie den prozyklischen Charakter der deutschen Fiskalpolitik verschärfen und einem deutlichen Abbau der enormen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse entgegenstehen. Dies wiederum macht es den Defizitländern des Südens bei stabilen Wechselkursen fast unmöglich, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Es zwingt Ländern wie Italien und Griechenland, die bereits Jahre (oder im Falle Italiens Jahrzehnte) schmerzhafter und politisch unpopulärer Sparmaßnahmen hinter sich haben, einseitige, flächendeckende makroökonomische Anpassungen auf. Darüber hinaus hat Deutschlands Beharren auf fiskalische Zurückhaltung im eigenen Land und in Europa das moralisierende und wenig hilfreiche Narrativ von den „Heiligen im Norden“ und den „Sündern im Süden“ verstärkt, das eine sinnvolle Zusammenarbeit auf europäischer Ebene untergräbt und die politische Solidarität in der Eurozone gefährdet.

Die Schuldenbremse ist schlecht für die Demokratie

Die Schuldenbremse ist also schlecht für die Wirtschaft, aber noch mehr steht zu befürchten, dass sie auch äußerst schlecht für die deutsche Demokratie sein könnte. Es gibt mittlerweile erdrückende Belege dafür, dass eine Sparpolitik sich nicht nur negativ auf die Wirtschaft auswirkt, sondern auch mit äußerst besorgniserregenden politischen Ergebnissen verbunden ist. Eine neuere Studie von Thiemo Fetzer zeigt für Großbritannien, dass das Erleben der negativen Auswirkungen der Sparpolitik stark mit der Unterstützung der Bürger*innen für den Brexit im Referendum von 2016 zusammenhing. Ebenso hat ein Forscherteam um Simone Cremaschi gezeigt, dass ein Abbau der öffentlichen Dienstleistungen auf lokaler Ebene in Italien dazu führte, dass die Wähler mehr Angst vor Einwanderung hatten. Eine Arbeit mit historischen Daten von 2021 macht ebenfalls deutlich, dass die Unterstützung für die Nationalsozialisten in Gebieten des Deutschen Reichs, die in den Jahren 1930 bis 1933 am stärksten von der Austeritätspolitik betroffen waren, tendenziell höher war.

Dies scheint ein allgemeineres Problem zu sein. In ihrer Analyse von 166 Wahlen in westlichen Demokratien seit 1980 kommen Evelyne Hübscher, Thomas Sattler und Markus Wagner in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass eine Sparpolitik sowohl die Wahlenthaltung als auch die Stimmen für Randparteien erhöht und somit die Polarisierung des Parteiensystems vorantreibt. Außerdem ergaben Umfrageexperimente in Deutschland, Großbritannien und Portugal, dass die Effekte der Sparpolitik besonders ausgeprägt sind, wenn die etablierten Parteien der Linken und Rechten beide auf fiskalische Zurückhaltung setzen. Schließlich zeigen Ricardo Duque Gabriel et al. in ihrer Analyse regionaler Wahldaten (2022) von mehr als 200 Europawahlen, dass die Haushaltskonsolidierung zu einem spürbaren Anstieg der Stimmenanteile extremistischer Parteien, einer niedrigeren Wahlbeteiligung und einer stärkeren politischen Fragmentierung führt.

Die Schuldenbremse nimmt der Regierung weitgehend die Möglichkeit einer angemessenen Reaktion auf wirtschaftliche Notlagen und zwingt sie zu höchst unpopulären Ausgabenkürzungen. Damit erhöht sie die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass sich die hier genannten Muster in den kommenden Jahren in Deutschland wiederholen werden. Dies würde die verbreitete Meinung verschärfen, dass die Ampel-Regierung abgehoben und erfolglos agiert; die Politikverdrossenheit gegenüber den etablierten Parteien würde verstärkt. Angesichts des Höhenflugs der AfD in den Umfragen, wo sie bereits auf Platz zwei liegt, sind bislang undenkbare Szenarien möglich, in denen die extreme Rechte nicht nur auf Kommunal- und Landesebene an politischer Macht gewinnt, sondern auch als mögliche Regierungspartei betrachtet wird. Vielleicht hat die Brandmauer ja Bestand. Aber diese von uns hier aufgezeigten Muster hat es historisch bereits mehrfach gegeben, nicht nur in Deutschland, sondern jüngst auch in mehreren EU-Mitgliedstaaten, darunter Ungarn und Polen.

Nun ist Geschichte nicht Schicksal, und die Unterstützung für populistische und rechtsextreme Parteien hat nicht nur mit Wirtschaftskrisen oder materieller Unzufriedenheit zu tun. Bei Erklärungsversuchen, warum Wähler*innen extremistische Parteien unterstützen, spielen auch Identität und Ideen eine wichtige Rolle. Die Forschung zeigt jedoch, dass Wähler*innen, die mit den materiellen Folgen von wirtschaftlichen Schocks und Finanzkrisen konfrontiert sind, eher ihr Kreuz bei den rechtsextremen Parteien setzen. Aus der genannten Literatur wissen wir, dass Austerität als Reaktion auf diese Krisen das Problem eher verschärft. In diesem Zusammenhang ist eine starre und bindende verfassungsrechtliche Regelung wie die Schuldenbremse, die die etablierten Parteien und Koalitionspartner trotz all dieser Herausforderungen auf eine Sparpolitik verpflichtet, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch schlecht. Stattdessen sollte die deutsche Politik flexiblere fiskalische Regeln einführen, um die schwerwiegenden wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes zu bewältigen und die Demokratie gegen die wachsende Bedrohung durch Rechtsextremismus und Polarisierung zu stärken. Die Schuldenbremse mag gut gemeint sein, aber die demokratischen und wirtschaftlichen Herausforderungen sind einfach zu groß, um die schwarze Null über alle anderen Ziele zu stellen. 

Literatur

Ahlquist, John/Copelovitch, Mark/Walter, Stefanie: The Political Consequences of Economic Shocks: Evidence From Poland. In: American Journal of Political Science, 2020, Jg. 64, H. 4, S. 904-920.

Copelovitch, Mark/Frieden, Jeffry/Walter, Stefanie: The Political Economy of the Euro Crisis. In: Comparative Political Studies, 2016, Jg. 49, H. 7, S. 811-840.

Cremaschi, Simone/Rettl, Paula/Cappelluti, Marco/De Vries, Catherine E.: Geographies of Discontent: Public Service Deprivation and the Rise of the Far Right in Italy.“ In: Harvard Business School Working Paper, 2023, No. 24-024.

Fetzer, Thiemo: Did Austerity Cause Brexit? In: American Economic Review, 2019, Jg. 109, H. 11, S. 3849-3886.

Galofré-Vilà, Gregori/Meissner, Christopher M./McKee, Martin/Stuckler, David: Austerity and the Rise of the Nazi Party. In: Journal of Economic History, 2021, Jg. 81, H. 1, S. 81-113.

Huebscher, Evelyne/Sattler, Thomas/Wagner, Markus: Does Austerity Cause Polarization? In: British Journal of Political Science, 2023, Jg. 53, H. 4, S. 1170-1188.

Kelemen, R. Daniel: The European Union’s Authoritarian Equililbrium. In: Journal of European Public Policy, 2020, Jg. 27, H. 3, S. 481-499.

27.3.2024

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