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Human Ecology – Chicago School revisited

Von der Urbanität zur globalen Klimaforschung

Bernhard Glaeser und Parto Teherani-Krönner

Die humanökologische Geschichtsschreibung beginnt mit Robert Park in den 1920er-Jahren. Die frühen Stadtsoziologen der Chicago School of Sociology, neben Park insbesondere Ernest Burgess und Roderick McKenzie, haben Human Ecology als interdisziplinäres Fachgebiet entwickelt. Unter Humanökologie wurde die Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Beziehungen menschlicher Lebewesen verstanden, bewirkt durch die selektiven, distributiven Kräfte der Umwelt und dem akkommodativen Arrangement mit der Gesellschaft.

Untersuchungsgegenstand war die Stadt. Wichtige Vertreter des Gebietes waren später Otis Duncan (1959) mit Beiträgen zur Theorie der biologischen und sozialen Evolution sowie Amos Hawley (1986) zum Verhältnis von Ökologie und Humanökologie. Hawley räumte mit Biologismen und Raumanalysen in der Sozialwissenschaft auf und stellte das specificum humanum menschlichen Verhaltens im kulturellen Anpassungsprozess in den Vordergrund. Auch McKenzie (1968) hat in seinen späteren Arbeiten die Besonderheiten der Humanökologie mit ihrer grundlegend anderen Qualität in Abgrenzung zur Tier- und Pflanzenökologie betont.

Zu den zentralen Forschungsgegenständen gehörten die in den schnell wachsenden Großstädten der USA entstandenen Enklaven. Unter den Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Ghettos wurden Strukturen in der Abfolge von Bevölkerungsgruppen erkannt, die zum Teil mit heftigen Auseinandersetzungen um territoriale Ansprüche einhergingen. „The Jews have successively displaced the Germans, the Irish, and the Bohemians, and have themselves been displaced by the Poles and Lithuanians, the Italians, the Greeks, the Turks, and finally the Negro“, so Louis Wirth zum Ghetto in Chicago.

In den 1970er-Jahren entstand die New Human Ecology im Zuge der Diskussion über die ökologischen Grenzen des Wachstums und die Umweltbewegungen in den Industriekulturen des „globalen Nord-Westens“, diesmal nicht von Stadtsoziologen eingeleitet, sondern von Land- und Agrarsoziologen wie William Catton, Riley Dunlap und Frederick Buttel. Sie zeigte aber auch marxistische Einflüsse. Das „human exemptionalism paradigm“ wird abgelöst vom „new ecological paradigm“. Das neue Paradigma besagt, dass der Mensch aufhört, einzigartig (exemptionalist) zu sein, eine kulturelle Ausnahme-Spezies, die im Mittelpunkt des Universums oder zumindest der irdischen Biosphäre steht. Stattdessen ist er Teil einer Lebensgemeinschaft, deren Energievorräte endlich sind und die mit begrenzten globalen Ressourcen haushalten muss. Später forderte Catton (1993), die Soziologie insgesamt als Teil der ökologischen Wissenschaft dieser unterzuordnen, was aber keine Resonanz fand.

Für die Soziologie wird eine geradezu kopernikanische Wende des Menschenbildes eingeleitet. Der Mensch rückt aus dem Zentrum der Natur und wird an deren Peripherie plaziert, als eine unter vielen Species. Begründet wird die neue Subdisziplin Umweltsoziologie, deren erster Weltkongress 2001 in Kyoto (Japan) stattfand, und die zur Konzeptbildung der Humanökologie erheblich beitrug. Die New Human Ecology verband die Tendenz zur biozentrischen Weltsicht mit einer politisch-normativen Komponente.

Empirisch-humanökologische Fallstudien

Die Humanökologie, in vielen Ländern mit universitären Lehrstühlen vertreten, hat in ihrer 100-jährigen Geschichte eine Fülle empirischer Forschungsarbeiten hervorgebracht, darunter in den Themenbereichen Entwicklungsländer, ländlicher Raum und nachhaltige Küsten. Beispiele hierfür, entstanden am WZB oder WZB-nahe, werden hier vorgestellt.

- Ökoentwicklung in Tanzania: Die Usambara-Berge

Die erste Weltumweltkonferenz in Stockholm 1972 erkannte und thematisierte den Nexus von Entwicklung und Umwelt. Hunger und Unterernährung waren weitere wesentliche Themen, die den Bogen zu einer umweltgerechten Landwirtschaft zogen. Diese Bezüge waren maßgeblich für die Entstehung der umweltorientierten Entwicklungsländerforschung in Heidelberg und Berlin in den 1970er-Jahren: in Heidelberg 1972 in der interdisziplinären „Arbeitsgruppe Umweltschutz“ am botanischen Institut der Universität, einer der ersten akademischen Einrichtungen dieser Art weltweit, und am WZB ab 1976. Bernhard Glaeser entwickelte seine Arbeiten zur politischen Ökologie und Ökoentwicklung (Ecodevelopment) nach Forschungsaufenthalten in Tanzania.

„Ecodevelopment in Tanzania“ analysiert die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für den Einsatz ökologisch orientierter Landbauverfahren in tropischen Höhenlagen Afrikas – in den Usambara-Bergen – auf Grundlage der Produkt- und Betriebskalkulationen in kleinbäuerlichen Produktionseinheiten, etwa für Mais, Maniok und Banane zum Eigenbedarf bzw. Gemüse und Kaffee zum Verkauf. Die Kombination von Markt- und Subsistenzfrüchten) optimiert Bedürfnisse und ihre Befriedigung.

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Tanzania
Bernhard Glaeser

(Forschungsprojekt in Tanzania: Abb. 1 zeigt dörfliches Unkrauthacken gemeinsam mit dem Autor. Saisonales Roden gilt als schwere körperliche Tätigkeit und wird traditionell von Männern durchgeführt. Dennoch leisten Frauen den Großteil der agrarischen Produktion (Foto: B. Glaeser, 1976))

Potenzielle Ertragssteigerungen werden mit ihrer Umweltverträglichkeit in Beziehung gesetzt, ein humanökologischer Ansatz. Ökologische Verfahren gehören bereits zum lokalen Wissen. Gruppendiskussionen bewerten Fruchtfolge, temporäre Brache oder Mulchen als sinnvoll, ebenso Erosionsschutz durch Anbau des tief wurzelnden Guatemalagrases. Dagegen lehnen die Gruppen Mechanisierung ab, die zu bewirtschaftenden Flächen seien zu steil und kleinteilig. Produktionssteigernde, gleichwohl Ressourcen sparende und umweltschonende Vorgaben bevorzugen ökologisch orientierte Verfahren. Hierbei handelt es sich um eine Synthese aus traditionellem afrikanischem Landbau und modernen ökologischen Methoden.

Eine erste Verbreitung fand das ökologische Methodengefüge in den Primarschulen der Umgebung. Hieran zeigte das Erziehungsministerium in Dar es Salaam Interesse. Die Schüler sollten in der Lage sein, ihre Nahrung selbst zu produzieren. Diese Zielsetzung entsprach der nationalen Strategie Tansanias: self-reliance zur Reduzierung außenwirtschaftlicher Abhängigkeit. Das Entwicklungsprojekt LIDEP (Lushoto Integrated Rural Development Project) der Karl Kübel Stiftung in Bensheim, in deren Rahmen die hier vorgestellte Studie entstand, begann 1969 als ernährungswissenschaftliche Initiative, verfolgte alsbald das Ziel ökologischer Nachhaltigkeit und war ihrer Zeit um Meilen voraus. LIDEP beeinflusste die von Kurt Egger inspirierten Projekte zum standortgerechten Landbau mit Agroforstwirtschaft und partizipativem Arbeiten in Nyabisindu, Rwanda, und in der Folge weitere Projekte der GTZ. Ökologischer Landbau ist aus der heutigen ruralen Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr wegzudenken.

- Gülleregulierung in Deutschland: Der Landkreis Vechta

Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, Regionen der Intensivtierhaltung, verabschiedeten in den 1980er-Jahren zwischen Agrarministerien und Umweltverwaltungen abgestimmte Regelungen zum Ausbringen von Gülle nach Menge und Zeitpunkt, zunächst einen „Gülleerlass“ (1983), gefolgt von einer „Gülleverordnung“ (1984). Intensive Tierhaltung zeichnet sich durch flächenunabhängige Bewirtschaftung aus. Die Kombination von Stallhaltung und Futtermittelzukauf, als „Veredelungswirtschaft“ bezeichnet, garantiert ein lukratives Geschäft. Als Nebenprodukt fällt Gülle in umweltschädlicher Menge an, die das Grundwasser bedrohen. Die Betriebe waren nun gehalten, ausreichend Flächen zum umweltverträglichen Ausbringen der Gülle aus den Stallungen auszuweisen.

Das WZB führte Mitte der 1980er-Jahre eine der ersten agrarumweltpolitischen Studien in Deutschland zur Nitratregulierung im norddeutschen Raum durch. Dabei untersuchte Parto Teherani-Krönner die Güllewirtschaft im Landkreis Vechta mithilfe des humanökologischen Ansatzes von Robert Park. Soziokulturelle Bedingungen agrarwirtschaftlicher Prozesse wurden mit ihren ökologischen Folgen verknüpfte.

Die ermittelten Daten und Informationen lassen sich gemäß der „humanökologischen Pyramide“ systematisieren (Abb. 2). Sandige, ertragsarme Böden (ökologische Ordnung) waren der Grund für geringe Erträge und eine schwache wirtschaftliche Entwicklung (ökonomische Ordnung). Schweinemast bot einen Ausweg aus der Not, doch die Trinkwasserrichtlinie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1980 erzwang die Gülleverordnung zur Schonung der Umwelt (politische Ordnung). Alternativ bot sich Gülleexport an. Doch die „katholische Gülle“ aus Vechta wollte im protestantischen Umland niemand haben. Jahrhundertealte konfessionelle Rivalitäten traten beim Umweltschutz zutage (moralische Ordnung).

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Pyramide

(Abb. 2: P. Teherani-Krönner Humanökologische Pyramide nach Beschreibungen von Park, 1992)

 Mittlerweile sind fast 40 Jahre vergangen, die Nitratbelastung im Grundwasser hat sich nicht reduziert. Im Gegenteil erhöhte sich die Belastung. sodass Deutschland nach einer Klage der Europäischen Kommission und einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sogar Strafgelder drohen.

Für das Verständnis agrarwirtschaftlicher Prozesse im Landkreis Vechta, welche die Umwelt bis heute massiv belasten, ist es humanökologisch bedeutsam, soziokulturelle Zusammenhänge ebenso zu berücksichtigen wie naturräumliche Gegebenheiten.

- Nachhaltige Küsten in Schweden: SUCOZOMA

Küsten entstehen dort, wo Erde, Wasser und Luft aufeinandertreffen. „Küste“ hat einen Doppelcharakter: Sie ist eine gegenständliche, physische Größe und zugleich ein mentales Konstrukt. Ihre kulturhistorische Bedeutung, ihre biologische und wirtschaftliche Produktivität gehen einher mit ökologischer Verletzlichkeit. Vielfältige Nutzungen sind mit unterschiedlichen Interessen verknüpft und schaffen Konflikträume. Hier setzt das Integrierte Küstenzonen-Management (IKZM) ein, um zu vermitteln und nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Nachhaltigkeit ist eine „regulative Idee“ (Immanuel Kant), deren normsetzender Kraft auch der humanökologische Ansatz verpflichtet ist, der den Bogen schlägt von der reflexiven Begründung bis zur Umsetzung von Nachhaltigkeit im Küstenmanagement.Das schwedische Forschungsprogramm SUCOZOMA untersuchte Probleme der Ressourcennutzung und des Umweltschutzes in Küstengebieten. Die Nutzungsprobleme betreffen lebende (Fischerei und Muschelzucht) ebenso wie nicht lebende Naturressourcen (Wasser und Boden). Die Feder führte das Humanökologische Institut der Universität Göteborg unter der Leitung von Bernhard Glaeser. Sozial- und Naturwissenschaften arbeiteten gemeinsam an Problemlösungen: 1) Humanökologie, ökologische Ökonomie, Politikwissenschaft; 2) Marinebiologie, Toxikologie, Ökologie; 3) Fischerei,  Meeresbiologie und Genetik (Abb. 3).

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Humanökologie
Bernhard Glaeser

(Abb. B. Glaeser: SUCOZOMA  program structure, 1996)

Nicht wissenschaftliche Nutzer formulierten Probleme und bewerteten Nutzungskonflikte. Das SUCOZOMA-Programm prägte die Küstenforschung somit nicht nur inter-, sondern auch transdisziplinär, etwa die nachfolgenden WZB-Küstenprojekte an Nord- und Ostsee, „Coastal Futures“ und „IKZM Oder“. Klimafolgen, so durch „sea level rise“ bedrohte kleine Inseln, thematisierte das deutsch-indonesische Küstenprojekt SPICE.

- Das humanökologische Paradigma: Globalisierung und Nachhaltigkeit

Kennzeichen der Humanökologie ist ganzheitliches statt reduktionistisches, organisches statt mechanisches Denken bei der Analyse komplexer Wechselwirkungen. Die Humanökologie war in den 1920er-Jahren Vorreiterin auf der Suche nach einer wertfreien gesellschaftlichen Analyse der Beziehungen von Mensch, Gesellschaft und Umwelt. In den 1970er-Jahren, nach dem umweltpolitischen Aufschrei des „Silent Spring“ von Rachel Carson (1961) und im Zuge der Debatte um die Grenzen des Wachstums, erneuerten Catton und Dunlap die Human Ecology und begründeten das Gebiet der Umwelt- und später Klimasoziologie. Verwandte „Interdisziplinen“ – wie es in einer Publikation von Bernhard Glaeser heißt – in Sozial-, Kultur- oder Ethnosoziologie entstanden. Weiter entstanden neue Ansätze mit ähnlichem Anspruch, etwa sustainability science, ecological economics, social-ecological systems analysis oder earth system analysis. Diese Versuche einer umfassenden Zusammenschau verschiedener Aspekte von Mensch und Natur, denen die Ursprünge des Mensch-Umwelt-Paradigmas in der Humanökologie oft nicht bewusst waren, orientieren sich teils wieder stärker am reduktionistischen wissenschaftlichen Mainstream. Zugleich ist eine zunehmende Konvergenz zu beobachten. Humanökologie und Nachhaltigkeitswissenschaften (NHW) bewegen sich aufeinander zu. Für beide Ansätze ist Wissensintegration notwendig. Disziplinäre Methoden und Ergebnisse werden berücksichtigt. Transdisziplinarität wird zur prinzipiellen Herangehensweise. Systemwissenschaftliche Methoden gewinnen an Bedeutung. Dies zeigt sich in der australischen Schule der Humanökologie bei Dyball und Newell (2015), die Humanökologie als systemische Nachhaltigkeitsforschung charakterisiert und eine Synthese beider Ansätze anstrebt.

Die Soziologie hatte sich zunächst nur zögernd der Umweltprobleme angenommen, da soziale Fakten nur mit sozialen Fakten zu verknüpfen seien, wie Émile Durkheim dekretierte. Die gleiche Zurückhaltung ist auch beim Klimawandel und seinen Folgen zu beobachten. In den letzten Jahren allerdings stieg die Zahl klimasoziologischer Publikationen sprunghaft an. Ortwin Renn und andere, in der angelsächsischen Literatur Thomas Dietz et al., bauen ihre sozialwissenschaftliche Forschung auf naturwissenschaftlichen Fakten der Klimaforschung auf – eine Vorgehensweise, die ja auch die Humanökologie vertritt. Gesellschaftlich-kulturelle Anpassung (Adaptation) an Klimafolgen ergänzt Mitigation, den Versuch ihrer Eindämmung. Die Umweltsoziologie überlappt sich mit der Humanökologie und verändert sich zunehmend in eine Klimasoziologie.

 

 

Literatur

Dunlap, R., Catton, W. (1979). Environmental sociology. Annual Review of Sociology, 79(5), 243–273.

Glaeser B. (1984). Ecodevelopment in Tanzania – An Empirical Contribution on Needs, Self-sufficiency, and Environmentally-sound Agriculture on Peasant Farms. Mouton. Berlin 230 S.

Glaeser, B. (1996). Sociology of the environment: A German-American comparison. Human Ecology Review, 3(1), 32–42.

Glaeser, B. (Hrsg.). (2005). Küste, Ökologie und Mensch. Integriertes Küstenmanagement als Instrument nachhaltiger Entwicklung. München: Oekom.

Park, R., Burgess, E., McKenzie, R. (1925). The City. Chicago: University of Chicago Press.

Teherani-Krönner P. (1992). Human- und kulturökologische Ansätze zur Umweltforschung: Ein Beitrag zur Umweltsoziologie. Deutscher Universitätsverlag: Wiesbaden.

13.12.2021