Eine Frage der Gerechtigkeit
Es ist ein grundlegendes Versprechen der liberalen Gesellschaft: Alle sollen die gleichen Chancen haben, dann kann das Leistungsprinzip als ein Verteilungsmechanismus funktionieren. Das Leistungsprinzip fördert den sozialen Frieden, denn es legitimiert die ungleiche Verteilung durch den Verweis auf individuelle Anstrengung und Effektivität. Was aber, wenn diese Erklärung für Ungleichheit immer weniger funktioniert – wie es in den letzten Jahrzehnten zu beobachten ist?
Eine Organisationsform, in der Personen aufgrund gesellschaftlich beziehungsweise institutionell anerkannter individueller Leistungen oder besonderer Verdienste führende Positionen und/oder entsprechende Entlohnungen erhalten, wird als Meritokratie bezeichnet. Liberale weisen dem so verstandenen Leistungsprinzip einen normativen Status zu: Es begründet ihre grundlegende Ablehnung aller traditionalen Ordnungen, in denen die Geburt und bestimmte Gruppenzugehörigkeiten den Status und die Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft bestimmen. Meritokratie war das Gegenmodell zur Aristokratie. Das Verdienst ist demnach ein moralisches Prinzip, bei dem persönliche Eigenschaften oder Tätigkeiten die Grundlage für Anerkennung, Bezahlung oder Entlohnung sind.
So überzeugend und mobilisierungsstark die Kritik an anderen Zuweisungs- und Verteilungsmechanismen auch war, das Leistungsprinzip blieb doch ein Stiefkind unter den zentralen liberalen Prinzipien. Seine normative Begründung und seine Ausformulierung standen in der liberalen Theorie immer im Schatten anderer zentraler Prinzipien wie der Freiheit und Gleichheit. In gewisser Weise überwiegt die Kritik am Leistungsprinzip dessen theoretische Ausarbeitung. Die weitreichendste Kritik am Leistungsprinzip lautet, dass Verdienst und Meritokratie mit anderen liberalen Prinzipien in einem problematischen Spannungsverhältnis stehen – so zumindest argumentieren Michael Sandel oder Stefan Gosepath. Es sei unklar, wie subjektive Anstrengungen und Entbehrungen (die Input-Seite der Leistung) so bewertet werden können, dass es für alle annehmbar ist. Es sei zudem unmöglich, ein unparteiisches Urteil über den substanziellen Beitrag der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft zur Produktion sozialer Güter (die Output-Seite der Leistung) zu erhalten. Zudem ließen sich die tatsächlichen produktiven Leistungen einer Gruppe von Menschen nicht eindeutig individuellen Beiträgen zuordnen. Sie hängen zudem zu einem großen Teil von den sozialen Umständen und der genetischen Veranlagung ab – was letztlich auf Glück oder auch auf Willkür hinausläuft.
Trotz dieser grundsätzlichen Kritik kam dem Leistungsprinzip in der liberalen Ordnung historisch immer schon eine wichtige Legitimationsfunktion zu: Es musste Ungleichheiten in der liberalen Ordnung der Freien und Gleichen begründen. So wird das liberale Gleichheitsprinzip durch ein anderes liberales Prinzip korrigiert. Leistung wird herangezogen, wenn es darum geht, die ungleiche Verteilung von Einkommen, Vermögen, Positionen und Ämtern in liberalen Gesellschaften zu rechtfertigen. Diese Aufgabe hat das Leistungsprinzip zumindest phasenweise auch gut erfüllt. Die Menschen in liberalen Gesellschaften glauben mehrheitlich an leistungsbezogene Prinzipien als Rechtfertigung für die gerechte Verteilung von Belohnungen, insbesondere in der Wirtschaft und im Bildungswesen. Gerade diejenigen, die am unteren Ende der Gehaltsskala stehen, betonen das Leistungsprinzip besonders stark. Dieser Erfolg des Leistungsprinzips – so kann vermutet werden – hängt weniger daran, dass das Prinzip normativ besonders kohärent wäre, sondern vielmehr daran, dass andere Zuteilungsprinzipien wie etwa die Geburt noch weniger attraktiv und plausibel sind.
Gleichwohl funktioniert das Leistungsprinzip als zentrale Rechtfertigung von Ungleichheit nur innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Kontexte und Entwicklungen. Wenn sich nämlich das Marktergebnis zu deutlich vom Leistungsprinzip entkoppelt, wird die Ungleichheit zum Problem liberaler Ordnungen. Und genau in einer solchen Phase der offenkundigen Entkoppelung von Marktergebnis und Leistungsprinzip befinden wir uns. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte bis weit in die 1980er-Jahre hinein das meritokratische Narrativ mit einer gewissen Plausibilität vertreten werden: Die Verteilung materieller Güter in demokratischen Wohlfahrtsstaaten, so wurde mit Erfolg behauptet, spiegele die Leistung der Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer wider. Selbst Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank fühlten sich lange Zeit an die Grundregel „Nicht mehr als 20-mal so viel wie ein Filialleiter“ gebunden; und dort, wo unverschuldete Notlagen zu Armut geführt hätten, griff der demokratische Wohlfahrtsstaat ein.
Die letzten 40 Jahre sind hingegen von einer Entwicklung gekennzeichnet, in der die Ungleichheiten in liberalen Demokratien zumeist zugenommen haben. Das mag man zwar normativ bedauern, das alleine begründet aber noch kein empirisches Legitimationsproblem. Entscheidend ist vielmehr, dass drei Mechanismen zu erkennen sind, die zu einer Entkopplung von Erfolg und Leistung führen. Die wachsende Ungleichheit ist in den Arbeiten von Branko Milanović und Thomas Piketty dokumentiert worden.
Thomas Piketty hat auch auf einen ersten Entkopplungsmechanismus aufmerksam gemacht: Im Zuge der Finanzialisierung steigen Kapitaleinkommen schneller an als Arbeitseinkommen. Viele dieser Kapitaleinkommen stehen in keinem Verhältnis zur Leistung. Sie beruhen häufig auf Erbschaften und zumeist auf Aktivitäten und Instrumenten auf Finanzmärkten, deren Beitrag zur gesellschaftlichen Produktivität zumindest im Verborgenen bleibt. Pikettys Argumentation und Methode hat viel Kritik erfahren. Dass aber Kapitaleinkommen eine große Rolle bei der neuen Ungleichheit spielen und die besonders hohen Kapitaleinkommen kaum alleine auf das Leistungsprinzip zurückgeführt werden können, kann kaum bezweifelt werden. Und das ist hier das Argument.
Zum Zweiten führt der Wandel von der Industriegesellschaft in eine digitalisierte Dienstleistungsgesellschaft dazu, dass die Bedeutung von Netzwerken wächst. Wer Plattformen für Netzwerke bereitstellt, kann sich damit den Wettbewerbsmechanismen des Marktes entziehen. Wer ein Netzwerk kontrolliert, braucht keine Angst vor der besseren Konkurrenz zu haben. Auch wenn man der Überzeugung ist, dass es bessere Betriebssysteme als Windows gibt, wählt man nach wie vor den Platzhirsch, weil nur dieses Programm es erlaubt, mit allen Kooperationspartnern eng zusammenzuarbeiten. Die Kontrolle von Netzwerkgütern führt im Ergebnis zu langanhaltenden Monopol- und Oligopolstellungen. Und Oligopole, also die Marktherrschaft weniger, erlauben es, Gewinnmargen so nach oben zu treiben, dass Ungleichheit dramatisch zunimmt. Dabei geht es nicht nur um den Reichtum der superreichen Gründer, es geht auch um die Einkommen der zahlreichen (nicht aller) Mitarbeiter*innen von Microsoft und Co. verglichen mit denen anderer Dienstleistungsunternehmen. Die digitalen Monopolisten unserer Zeit wie Bill Gates, Elon Musk und Jack Ma ähneln darin den Größen der amerikanischen Öl-, Eisenbahn-, Stahl- oder später der Automobilindustrie wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und Henry Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Allerdings erweist sich die Stellung der digitalen Giganten aufgrund des Netzwerkcharakters ihres Angebots als ungleich stabiler. 50 Jahre nach dem Höhepunkt von Ford in den 1920er-Jahren (die Ford T-Fließband-Produktion hatte 1912 gestartet) war es ein krankes Unternehmen, überholt von vielen anderen Autounternehmen. Microsofts Dominanz bei PCs ist 50 Jahre nach seiner Gründung immer noch ungebrochen.
Es gibt noch einen weiteren Mechanismus, der das Leistungsprinzip seiner Rechtfertigungskraft beraubt. Die mediale Aufmerksamkeitsökonomie, die im Zuge der digitalen Dienstleistungsgesellschaft entstanden ist, stärkt den Verteilungsmechanismus des The-winner-takes-it-all-Prinzips. Die Erste oder zumindest die Ersten bekommen alles oder das allermeiste, die anderen gehen mehr oder minder leer aus. Anders gesagt: Ein Prozent mehr Leistung oder einfach das Glück entscheiden darüber, ob man fast alles hat oder fast nichts. Das kann nicht durch das Leistungsprinzip gerechtfertigt werden. Taylor Swift mag klasse sein, sie ist aber bestimmt nicht millionenfach besser als die meisten Popsängerinnen, die sich von Gig zu Gig in lokalen Spielstätten hangeln müssen, um ein Auskommen zu haben. Kylian Mbappé ist fraglos ein toller Fußballer. Aber kann er nach dem Leistungsprinzip einen doppelt so hohen Marktwert haben wie das gesamte rumänische Team, das immerhin Gruppensieger bei der Europameisterschaft geworden ist? Den Vergleich zu Einkommen und Leistung der Altenpflegerin erspare ich uns.
Als Folge dieser Entkopplungen wird innerhalb des liberalen Skripts die Ungleichheit wieder stärker angegriffen. Entscheidend ist dabei nicht, ob die Ungleichheit tatsächlich größer geworden ist, sondern dass ihre Rechtfertigung nicht mehr gelingt. Denn der Protest gegen Ungleichheit nimmt auch in jenen liberal-demokratischen Ländern zu (und gerade dort!), wo sich der GINI-Index als Maß für Ungleichverteilung nicht oder bestenfalls unwesentlich verändert hat – wie in Österreich, den Niederlanden oder Frankreich. Wenn man diesen Protest, der sich leicht in ein antidemokratisches Programm ummünzen lässt, bekämpfen will, helfen also kosmetische Korrekturen an der Verteilung staatlicher Mittel und kleine Korrekturen der Steuersätze auf das Arbeitseinkommen vermutlich nicht. Andere institutionelle Änderungen sind notwendig, um das Verhältnis von Markt und Leistung wieder besser auszutarieren.
Eine liberal-demokratische Ordnung wird nie zu einer idealen und vollständig gerechten Gesellschaft führen. Die (Selbst-)Kritik an materiellen Ungleichheiten und die Exklusionen und Verletzungen von Chancengleichheit gehören zur liberalen Ordnung. Was diese aber leisten muss, damit die Ungleichheitskritik sich nicht gegen den Kern des liberalen Skripts wendet, ist eine nachvollziehbare Rechtfertigung der Ungleichheit und eine plausible Perspektive, wie diese Ungleichheiten abgebaut werden können und sollen. Das kann jedoch nicht gelingen, wenn die Entwicklung in Richtung wachsender Ungleichheiten weitergeht und die Ungleichheit komplett vom Leistungsprinzip entkoppelt wird. In mindestens drei Bereichen sind Maßnahmen denkbar, die der Entkopplung von Marktergebnissen und Leistungsprinzip entgegenwirken können.
An erster Stelle gilt es, die Macht von Monopolen zu brechen. In moderneren liberalen Demokratien haben sich in den 1940er-Jahren zwei Variationen des Verhältnisses von Staat und Markt herausgebildet: der Neoliberalismus (in Deutschland schon früh in Form eines Ordoliberalismus) sowie eine progressivere Variante, die einen aktiven und umverteilenden Staat postuliert. Beide Varianten weisen eine Gemeinsamkeit auf, die heute vergessen scheint: die Notwendigkeit der Verhinderung von Monopolen und Oligopolen. Auch und gerade die ordoliberale Variante sieht die Hauptaufgabe des Staates darin, Monopole zu unterbinden. Zentral war dabei immer das Anliegen, dass die Marktmechanismen nicht durch Monopole überformt werden und dass die Zuteilung von Gütern und Reichtum im Rahmen eines fairen Wettbewerbs erfolgt. Einige der genannten Monopole in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden politisch zerschlagen, bei anderen wirkte der Markt in diese Richtung. Heute gelingt aber die Beschränkung von Monopolen und Oligopolen kaum noch. Es bedarf also neuer institutioneller Regelungen – etwa einer globalen Anti-Monopol-Kommission –, um diese Prinzipien wieder zu stärken. Ein Markt ist im liberalen Skript nur dann moralisch akzeptabel, wenn er von Prinzipien umrahmt wird, die dem Leistungsprinzip und damit der Gerechtigkeit Geltung verschaffen.
Zum Zweiten müssen die Digitalisierung der Ökonomie und der Wandel zu einer Dienstleistungsökonomie so gestaltet werden, dass das The-winner-takes-it-all-Prinzip sich nicht durchsetzen kann. Wo das nicht möglich erscheint, gilt es subsidiäre Umverteilungsstrukturen aufzubauen. Es bleibt nämlich unverständlich, warum Ungleichheiten aufgrund des Gewinnerprinzips gerade in der linksliberalen Kunst- und Kulturszene so unglaublich ausgeprägt sind. Entsprechende sektorenspezifische Versicherungs- und Umverteilungssysteme könnten hier viel bewirken. Würden etwa Musikerinnen und Musiker mit einem Jahreseinkommen von über einer Million Euro entsprechende Abgaben entrichten, so könnten mit diesen die geringen Einnahmen beim Streaming weniger erfolgreicher Alben aufgestockt werden.
Schließlich muss plausibel bestimmt werden, was als eine Leistung zählt, die Verteilung begründet. Es dürfte deutlich werden, dass die Geburt in einer reichen Familie nicht dazu gehört. Die strenge Besteuerung und Begrenzung von Erbschaften könnte dann auch wieder zu einem Programmpunkt jener Parteien werden, die in ihrem Selbstverständnis liberal sein wollen, wie das zu Zeiten der Freiburger Thesen – des FDP-Programms von 1971 – schon einmal der Fall war. Eine Gesellschaft, die auf Chancengleichheit baut, kann das Vererben von Vermögen nicht zum zentralen Kriterium für die Verteilung des Reichtums erheben.
Literatur
Milanović, Branko: Global Inequality: A New Approach for the Age of Globalization. Cambridge, Mass: Harvard University Press 2016.
Moellers, Christoph: Freiheitsgrade, Elemente einer liberalen politischen Mechanik. Berlin: Suhrkamp Verlag 2020.
Piketty, Thomas: Capital in the 21s Century. Cambridge, Mass: Harvard University Press 2013.
Sandel, Michael J.: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Frankfurt: S. Fischer Verlag 2020.
Zürn, Michael (Hg.): Zur Kritik des liberalen Skripts: Innere Spannungen, gebrochene Versprechen und die Notwendigkeit der Selbsttransformation. Sonderband Leviathan 42/2024, Nomos. Darin finden sich besondere Beiträge von Stefan Gosepath, Rahel Jaeggi und Michael Zürn/Fritjof Stiller.
30.9.2024
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