Egoistischer Affe
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Auch die Verhaltensökonomie muss aus der Corona-Krise lernen

Ein Beitrag von Steffen Huck

In der Entwicklung von Strategien zum Umgang mit der Corona-Krise spielen die Sozialwissenschaften eine zentrale Rolle, schließlich beruht der Erfolg des Virus neben seinen biologischen Eigenschaften vor allem auf menschlichem Verhalten. Bleiben wir in sicherem Abstand voneinander hat das Virus keine Chance. Gleichzeitig sind die Folgen von sicherem Abstand rein soziale, sie betreffen unser Wohlbefinden und unsere ökonomische Sicherheit.

Da sich das Auftauchen des Virus bald zum ersten Mal jährt, lohnt es sich aber auch festzustellen, dass die Sozialwissenschaften einiges aus der Krise zu lernen haben, zumal die Disziplin der Verhaltensökonomie, die die psychologische Realität unseres Daseins, unsere Schwächen zumal, über die letzten Jahrzehnte mit guten Erfolgen in das Gebäude ökonomischer Theorien integriert hat.

Betrachtet man die verschiedenen Kernbotschaften der Verhaltensökonomie ergeben sich im Licht der Corona-Krise erhebliche Unterschiede für ihre Relevanz in Krisenzeiten, mit drei Erfolgsbotschaften und einem katastrophalen Misserfolg.

Die von der Verhaltensökonomik verdeutlichten Schwächen menschlicher Rationalität zeigen sich in der Corona-Krise in zwei Bereichen par excellence.

Wir finden Multiplikation schwieriger als Addition. Was Grundschullehrer*innen jeden Tag bezeugen können, erweist sich gerade in brutaler Weise auch bei erwachsenen Profis. Selbst gewiefte Journalisten, die die Corona-Krise seit Monaten verfolgen, haben exponentielles Wachstum noch immer nicht begriffen – trotz der vielen Erklärungsversuche allerorts, inklusive des Versuchs der Bundeskanzlerin, den sogenannten R-Wert zu erklären, der letztlich nichts anderes ist als der Multiplikator des Virus. Exponentielles Wachstum wird nach wie vor verwechselt mit zahlenmäßig großen Änderungen. Das zeigte sich im Spätsommer, als die Zahlen langsam (aber multiplikativ) anstiegen und die Presse davor warnte, dass ein exponentielles Wachstum wieder drohe, obwohl man schon längst wieder von konstanten Verdopplungszeiten, die ein solches charakterisieren, ausgehen konnte. Als die täglichen Neuinfektionen bei rund 4.000 standen, warnte zum Beispiel Spiegel online – mit dem Zusatz, dass die schlimmen Zahlen des Frühlings von über 6.000 „noch weit“ entfernt seien. Keine Woche später und die Zahlen standen bei über 8.000.

Wir denken zu kurzfristig und neigen zum Vergessen. Eine Süßigkeit jetzt oder zwei in einer Viertelstunde? Das Stanford-Marshmallow-Experiment von Walter Mischel aus den frühen Siebzigern hat auf kinderbunte Weise gezeigt, wie problematisch es ist, nicht zu weit vorauszudenken. Wir sehen das jetzt in extremis, und die Kopplung mit einem exponentiellen Prozess, macht es umso schlimmer. Schon als die Zahl der siebentägigen Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in Berlin bei 40 stand, war die Testkapazität des Stadtstaats zu 95 Prozent erschöpft. Warum die Berliner Behörden den Sommer nicht genutzt haben, Testkapazitäten auszubauen, obwohl alle Virolog*innen vor der „zweiten Welle“ gewarnt haben? Weil sie die Bedrohlichkeit des Virus und die Bilder von Bergamo wieder vergessen hatten und auch dachten, dass sich noch morgen besorgen lässt, was du heute nicht besorgen musst. Die Auswirkungen von mangelnden Testkapazitäten und auch mangelndem Personal für die Nachverfolgung sind jetzt mit aller Schärfe zu sehen, da in Berlin zum Beispiel weniger als 10 Prozent aller Neuinfektionen noch auf ihren Ursprung zurückverfolgt werden können.

Ein dritter Pfeiler der Verhaltensökonomie sieht hingegen stark geschwächt aus. Über viele Dekaden sind Ökonomen für ihr engstirniges, verfehltes Weltbild gescholten worden, das auf der Idee des schieren Eigennutzes der Menschen fußt. So brutal war das Bashing, dass manche von uns selbst anfingen, das Ende des egoistischen „homo oeconomicus“ zu proklamieren, der zu ersetzen sei durch einen „homo socialis“, ein geselliges, gutes Wesen mit „sozialen Präferenzen“. Und weil der gute Mensch gern Gutes über sich hört, wurden die Apostel der neuen Ökonomik wie Heilsbringer gefeiert.

Die Evidenz für die Revolution kam zum Beispiel aus dem sogenannten Diktatorspiel. Ein Experimentator gibt einem Probanden zehn Euro, der das Geld zwischen sich und einem anderen Probanden nach Belieben aufteilen darf, und siehe, fast keiner behält alles für sich, und viele geben gar die Hälfte. Quod erat demonstrandum.

So sehr hat die Idee vom guten Menschen alle begeistert, dass die Beobachtung meines einstmaligen Kollegen, dem großen Ken Binmore, dass man, um das Diktatorspiel zu untersuchen, keine Experimente braucht, da wir doch alle, die wir Geld in den Taschen hätten, ständig Diktatorspiele spielen würden – schließlich stünde es uns jederzeit frei, einem Fremden etwas von unseren Münzen abzugeben. Den paar Datenpunkten aus den Experimentallaboren, in denen die Versuchsteilnehmer*innen sich unter strenger Beobachtung befänden, stünden doch aber Quadrillionen Beobachtungen aus dem richtigen Leben entgegen, bei denen fast niemand je etwas gibt. Menschen sind nur dann gut, so das immer wiederkehrende Motiv im Werk Binmores, wenn es in ihrem längerfristigen Interesse ist, also wenn es sich aus ihrem simplen Eigennutz ergibt (vom Altruismus gegenüber Kindern und anderen engen Verwandten abgesehen).

Die Seuche beliefert uns nun mit neuen Daten aus dem richtigen Leben, und sie sind ein trauriger Triumph für die „düstere Wissenschaft“ der Ökonomie. Die Treiber der Neuinfektionen in diesem Sommer waren die 15- bis 30-Jährigen, denen die Party wichtiger war als die Gesundheit ihrer Mitmenschen. Aber warum sollten sie auch nicht Party machen? Nicht nur macht ihnen Covid-19 kaum etwas aus, im Zweifel profitieren sie noch vom vorgezogenen Erbe.

Eine Kritik an der Partykultur stellt das nicht dar. Warum jemand sich gegen seine ureigenständigen Interessen verhalten sollte, ist mit Blick auf die Tierwelt, deren Teil wir nun einmal sind, vollkommen unklar. Tausende Jahre von Evolution haben es uns mühsam eingebläut: wer sich hinter die anderen stellt, ohne dass ihm das was bringt, stirbt einfach aus.

Wenn in der augenblicklichen Krise ein Versagen vorliegt, dann jedenfalls nicht das der jungen, fitten Menschen, die ein wenig Spaß haben wollen. Eher muss vom Versagen naiver Appelle an den Uneigennutz die Rede sein. Sich auf die Kraft sozialer Präferenzen in der Praxis einer gesellschaftlichen Krise zu verlassen, erweist sich als fatal. Für die Verhaltensökonomie bedeutet das, die Grenzen des von ihr propagierten Altruismus neu auszuloten und das Verhältnis von Generosität im Labor und Egoismus im Alltag besser zu beleuchten. Der Gedanke an ein fest verankertes Gutmenschentum macht zwar warm ums Herz, den Blick auf menschliches Verhalten in schweren Zeiten kann er aber nur vernebeln.

 

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Dezember 2020