Der lange Weg aus der Krise
Ein Beitrag vom Jutta Allmendinger
In Krisenzeiten rücken die Menschen zusammen. Angesichts drohender Gefahren von außen verlieren Unstimmigkeiten, Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse schnell an Bedeutung. Gleichzeitig schwindet die Kraft, Neues anzugehen und erobertes Terrain zu verteidigen. Langfristige, wichtige Ziele geraten aus dem Blick. Die Menschen rutschen zurück in alte Gewohnheiten, in überlieferte und immer wieder fortgeschriebene Routinen. Doch Krisen wirken auch wie ein Brennglas, durch das wir auf festsitzende Erwartungshaltungen, Rollenklischees und vermeintlich überkommene Gepflogenheiten schauen können. Wenn wir aus dem, was wir dann sehen, Taten folgen lassen, haben Krisen durchaus auch etwas Gutes.
Die in den vergangenen Wochen unabhängig voneinander erhobenen Daten der WZB-Studie zum Alltag in Corona-Zeiten, des Sozio-oekonomischen Panels und der Mannheimer Corona-Studie zeigen die Realität unter dem Brennglas: die Lebenssituation vieler Familien mit kleinen Kindern in Deutschland. Sie belegen eine Rollenverteilung zwischen Müttern und Vätern, die jener in der Generation unserer Eltern und Großeltern entspricht – und die wir nicht mehr für möglich gehalten hätten. Zumindest all jene von uns, die mit viel Geduld optimistisch nach vorne geblickt haben, voller Vertrauen in die Kraft eines neuen, egalitären Rollenverständnisses und die Umsetzung des in allen Befragungen geäußerten Strebens junger Menschen – Frauen wie Männern – nach Gleichberechtigung.
Was ist passiert? Mütter, die sich nach der Geburt ihrer Kinder in meist jahrzehntelanger Teilzeit wieder ihrer Erwerbsarbeit widmen, ziehen sich aus dem Arbeitsmarkt zurück. Über 20 Prozent von ihnen reduzieren ihre Arbeitszeit, die ohnehin schon kürzer als die der Männer ist. Gleichzeitig erhöht sich die Zeit, die die Mütter für die Betreuung der Kinder aufwenden, für die Hausarbeit oder die Pflege von Familienangehörigen. All das ist zunächst kein Alarmzeichen. Es ist eine unvermeidbare Reaktion auf die in Corona-Zeiten schnell geschlossenen Kitas, Schulen, Sportvereine und krisengeschuldet ausbleibenden Einladungen von Freundinnen und Freunden ihrer Kinder. Infrastrukturen brechen weg, die Kinder brauchen Aufmerksamkeit und Anregungen. Alarmierend ist aber die Tatsache, dass weit überwiegend Mütter diesen Rückzug aus dem Arbeitsmarkt vornehmen, sich um Kinder und Küche kümmern. Väter treten deutlich seltener zurück, bleiben bei ihrem Arbeitsleben, auch dann, wenn sie im Homeoffice arbeiten oder in Kurzarbeit sind. Ein Beispiel aus der Wissenschaft zeigt, wie folgenreich diese Ungleichheit sein kann: Während Forscher seit dem Beginn der Pandemie deutlich mehr Studien zur Veröffentlichung bei wichtigen Fachzeitschriften einreichen, ist ein solcher Anstieg bei Forscherinnen nicht zu verzeichnen. Sie geraten daher ins Hintertreffen – denn Veröffentlichungen sind die Währung für beruflichen Erfolg in der Forschung.
Wir erleben eine entsetzliche Retraditionalisierung. Die Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen ist wie in alten Zeiten, eine Rolle zurück. Sie ist entsetzlich, da Frauen heute ganz andere Vorstellungen von einem guten Leben haben als früher. Sie möchten das umsetzen, was sie gelernt haben; sie wissen, dass finanzielle Unabhängigkeit von den Partnern und Partnerinnen auch ein großes Stück Freiheit bedeutet – eine Existenzgrundlage allemal. Sie möchten ein Stück eigenes Leben, eigene Lebenszusammenhänge, eigene Erfahrungen. Zeit für sich. Und so zeigen ihre Antworten in unseren Umfragen auch wenig überraschend, dass sie nicht mit wehenden Fahnen und gleichermaßen froh, die Last der Erwerbsarbeit abgeschüttelt zu haben, wieder in ihre Wohnungen zurückgekehrt sind. Im Gegenteil: Ihre Zufriedenheit knickt massiv ein, die Zufriedenheit mit ihrer Erwerbsarbeit, mit ihrer Familiensituation, mit ihrem Leben. Retraditionalisierung ist daher ein fast noch verharmlosendes Wort. Es ist zu schmusig, zu nett. Es geht um den Verlust der Würde von Frauen, von Respekt, von Rechten.
Blicken wir zurück. Schon in den frühen Achtzigerjahren wurde im Parlament über die Lage der Frauen in unserer Gesellschaft ausführlich beraten. Das Ganze ist gut dokumentiert, ebenso die Lösungsansätze: Sicherung der Gleichbehandlung, Beseitigung der Diskriminierung, Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen. Herausgegeben vom Deutschen Bundestag. Alles liegt seit damals auf dem Tisch. Die riesigen Unterschiede in den Erwerbsquoten, in den Arbeitszeiten, in der Dauer der familienbedingten Erwerbsunterbrechungen, im Stundenlohn zwischen Männer- und Frauentätigkeiten, im Stundenlohn für dieselbe Arbeit, in den Erwerbsquoten, in der Zeit, die für Kinder, Hausarbeit und Betreuung von Familienmitgliedern aufgewendet wird.
Die der damaligen Berichterstattung zugrunde liegenden Daten sind nun über 30 Jahre alt. Wir können sehen, was aus den Erwerbsbiografien dieser Frauen geworden ist. Das griffigste Maß ist noch immer die Altersrente, denn sie sammelt ordentlich jede einzelne Stunde in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung über den gesamten Lebensverlauf. „Altersrenten spiegeln die Lebensleistung“, wie es der gerade verstorbene Norbert Blüm formulierte. Unterstellen wir ihm, dass er hier nicht an Frauen gedacht hat. Bis zum Jahr 2015 lag die von den Ehemännern abgeleitete Witwenrente, sie beträgt 60 Prozent der Altersrente der Männer, höher als die selbst erwirtschafteten Altersrenten der Frauen. Bis vor kurzem lohnte sich der Ehemarkt für Frauen deutlich mehr als der Arbeitsmarkt. Erst in den vergangenen vier Jahren hat sich das leicht geändert. Geändert haben sich auch die Erwerbsquoten. Früher waren viel weniger Frauen als heute erwerbstätig, dann aber in Vollzeit. Heute liegt die Erwerbsquote von Frauen höher, allerdings arbeiten die Frauen meist in Teilzeit – mit allen Nachteilen für die Karriere.
Auch die institutionelle Rahmung von Erwerbsverläufen hat sich zwischenzeitlich geändert. Es gibt das Recht auf einen Krippenplatz. Es gibt Schulen, in denen die Kinder bis 16 Uhr bleiben können. Unterrichtet wäre wohl das falsche Wort. Es gibt mehr Geld für Familien und Anreize für Väter, die Kinderbetreuung zumindest für zwei Monate zu übernehmen. Aber die meisten institutionellen Flankierungen haben sich gehalten. Das Ehegattensplitting ist in Zement gegossen. Die Mitversicherung in der Krankenkasse ebenso. Nur wenige Frauen besetzen Führungspositionen. Sind sie in Kommissionen, so als fleißige Lieschen, den Vorsitz bekommen meist Männer. Insbesondere aber hat sich die Vorstellung gehalten, dass sich Frauen ändern müssen. Sie sollen wie Männer werden. Hohe Arbeitszeiten, wenige Unterbrechungen, permanente Präsenz.
Doch die großen Unterschiede könnten auch ganz anders behoben werden. Männerbiografien könnten sich jenen von Frauen annähern. Bezahlte und unbezahlte Arbeit würden beide zu gleichen Teilen übernehmen. Man träfe sich bei einer 32-Stunden-Woche. Der Wirtschaft würde das guttun. Kein Verlust an Arbeitsvolumen, kein Verzicht auf die gut gebildeten Frauen, hohe Gewinne in der Lebensqualität, für die Zivilgesellschaft, Zeit für sich und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Ansätze liegen seit fast vier Jahrzehnten auf dem Tisch. Gleicher Lohn für vergleichbare Arbeit, höhere Tarifierung von Frauentätigkeiten, mehr Elternmonate für die Väter, weg mit den Karotten, die Frauen niedrige Verdienste aufgrund von Steuereinsparungen nahelegen. Anfangsquotierungen, die helfen, bis es alle Männer verstanden haben, dass auch Frauen viel zu leisten vermögen.
In den vergangenen drei Tagen habe ich zwei Anrufe bekommen, die mich überrascht und sehr gefreut haben. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina setzt in Zukunft keine Kommission mit weniger als 30 Prozent Frauen ein. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften beruft mehr Frauen. Was in der Wissenschaft geht, muss auch in der Politik möglich sein. Mehr Vätermonate in der Betreuung von Kindern. Mehr Anreize für Teilzeit bei Vätern. Weg mit dem Ehegattensplitting. Eine höhere Tarifierung für Tätigkeiten, die meist von Frauen ausgeübt werden. Der lange Weg aus der Krise, er verlangt nach einer systematischen Überprüfung aller konjunkturellen Hilfsprogramme: Helfen sie Frauen wie Männern gleichermaßen? Wir brauchen dringend ein solches Gender Budgeting, ein geschlechtergerechtes Haushalten. Nur dann haben wir aus der Not dieser Tage gelernt, die so ungleich verteilt ist zwischen Männern und Frauen. Und so entwürdigend für jene, die die meiste Arbeit für die Gesellschaft und die Gemeinschaft erbringen.
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13.05.2020