Auto in der Fabrik.
RicAguiar / E+ / Getty Images

Die COVID-19-Krise beschleunigt den Strukturwandel in der Arbeitswelt

Ein Beitrag von Martin Krzywdzinski

Die gegenwärtige Krise hat massive Auswirkungen auf die Wirtschaft und Arbeitsgesellschaft. Globale Lieferketten sind unterbrochen und viele Betriebe stehen still. Es spricht einiges dafür, dass die Corona-Krise den Strukturwandel beschleunigen wird, der die deutsche Industrie bereits seit mindestens drei Dekaden prägt. Zwei Entwicklungen treiben ihn voran: die intensive globale Verflechtung der deutschen Industrie und die Verlagerung von Produktionsprozessen in Niedriglohnländer. Dies zieht ein besonderes Spezialisierungsmuster der deutschen Industriestandorte nach sich. In einem Hochlohnland wie Deutschland sind vor allem die Standorte wettbewerbsfähig, die neben der Fertigung auch Innovationsfunktionen übernehmen. Das kann eine enge Zusammenarbeit der Fertigung mit der Produktentwicklung oder die besondere Kompetenz bei der Einführung neuer Produkte und Technologien sein. Reine Fertigungsstandorte ohne solche Zusatzfunktionen müssen sich einem Lohnkostenwettbewerb mit Niedriglohnwerken in Osteuropa oder Asien stellen und haben seit Langem mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen zu kämpfen. Die Spezialisierung der deutschen Industrie auf die Verbindung von Fertigung und Innovation hat in den letzten Dekaden dazu geführt, dass der Anteil von Ingenieur*innen, Techniker*innen und Facharbeiter*innen an der Beschäftigung gestiegen ist, während der Anteil angelernter Arbeitskräfte kontinuierlich abnimmt.

Die COVID-19-Krise wird diese Entwicklung verschärfen, denn sie bedeutet für die Unternehmen eine enorme Verknappung der Finanzmittel. Um die Krise zu überleben, werden die Unternehmen nach Einsparungen suchen. Das wird vor allem jene Standorte treffen, deren Produktion verlagert werden kann und die keine Innovationsfunktionen innerhalb der Unternehmen haben. Entgegen den in der gegenwärtigen Debatte häufig formulierten Prognosen wird die Krise nicht zu einem „Reshoring“ und einer Relokalisierung von Produktion führen, sondern könnte eine verstärkte Globalisierung nach sich ziehen. Es ist zwar durchaus plausibel, dass medizinische Schutzausrüstung und Medikamente wieder verstärkt lokal produziert werden – für andere Bereiche muss das nicht unbedingt gelten.

Große Auswirkungen der COVID-19-Krise sind in der Automobilbranche zu erwarten, da die Automobilhersteller und -zulieferer damit kämpfen, den Strukturwandel hin zur Elektromobilität zu bewältigen und ihre Ressourcen dort bündeln. Bereits vor der Krise waren viele Produktionsstandorte von Verbrennungsmotorenkomponenten in Deutschland mit abnehmenden Produktionsmengen und einem Preisverfall konfrontiert. Die betroffenen Werke – und damit auch ihre Beschäftigten – werden in erster Linie von den Sparaktivitäten der Unternehmen bedroht sein. Wie stark die Auswirkungen der Krise auf die Beschäftigung sein werden, wird von der Krisendauer und der staatlichen Politik abhängen.

Es ist nicht zu erwarten ist, dass Automatisierung an der hier beschriebenen Entwicklung etwas verändern wird und einen Trend auslöst, der zur Rückholung der Produktion nach Deutschland führen wird. Der Grund ist einfach: Das Automatisierungsniveau der meisten deutschen Industriebetriebe ist bereits sehr hoch. Die Forschung der Forschungsgruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion zeigt, dass im Zentrum der meisten Industrie-4.0-Projekte nicht die Automatisierung von manueller Arbeit, sondern die Vernetzung und die Optimierung der Arbeitsabläufe mithilfe von neuen Ansätzen der Datenauswertung (Big Data, maschinelles Lernen) steht. Ein Automatisierungsschub ist weniger in Deutschland als in Ländern wie China zu erwarten.

Da die COVID-19-Krise den bisherigen Strukturwandel beschleunigt, sollten neben kurzfristigen Reaktionen auf die Krise (wie die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes) auch langfristige Maßnahmen zur Bewältigung der Veränderungen weiterentwickelt werden. Eine besondere Rolle kommt dabei der Qualifizierung und Personalentwicklung zu. Mit dem Qualifizierungschancengesetz fördert die Bundesregierung seit 2018 Qualifizierungsmaßnahmen für Beschäftigte, die von der Digitalisierung betroffen sind, stärker als vorher. Allerdings folgt das Gesetz immer noch traditionellen Mustern: Unterstützt werden mehrwöchige unternehmensexterne Bildungsmaßnahmen.

Was fehlt, ist erstens eine systematische Förderung neuer Formen der digitalen Wissensvermittlung, die von den Beschäftigten selbstorganisiert abgerufen werden können und in den Arbeitsalltag integriert sind. Entsprechende Konzepte sind in der Erprobung. Jene Unternehmen, die bei der Einführung digitaler Lernplattformen fortgeschritten sind, konnten sie auch in der jetzigen Krise für Qualifizierung nutzen.

Zweitens fehlt es in vielen Unternehmen an der Verbindung von Qualifizierungsmaßnahmen mit langfristiger Entwicklungsplanung. Eine solche existiert zwar für die Management- und Expertenbereiche, aber nur in seltenen Fällen für die Beschäftigten in der Produktion. Diese werden aber vom Strukturwandel am stärksten getroffen. Für diese Menschen müssen langfristige Entwicklungswege gestaltet werden, anhand derer die benötigten Qualifizierungsschritte planbar werden.

 

--

29. April 2020