Die COVID-19-Krise nutzen: Es ist Zeit für eine Arbeitsversicherung

Ein Beitrag von Günther Schmid und Wolfgang Schroeder

Die COVID-19-Krise trifft unsere Republik mit Wucht. Noch scheinen Wirtschaft und Arbeitsmarkt für eine Krise gut aufgestellt zu sein. Doch was ist danach? Die „Bazooka“ der Regierung wird die Lage nur kurzfristig mildern; die Folgen der Krise werden längerfristig wirken und den Strukturwandel beschleunigen. So müssen wir jetzt die Weichen für die Zeit danach stellen.

Es ist offensichtlich, dass die systemrelevanten Berufe in der pandemischen Risikogesellschaft andere sind als in der Industriegesellschaft. Die Beschäftigten in den personennahen Dienstleistungen (Gesundheit, Erziehung, Bildung, Pflege und Versorgung) waren schon in den letzten Jahrzehnten „Helden“ und „Heldinnen“, die dem Gespenst „Uns geht die Arbeit aus“ Paroli boten. In der pandemischen Krise wird uns das erneut bewusst – und auch, dass diese Berufe unter Wert bezahlt werden. Nun rächt sich, dass der öffentliche Dienst jahrzehntelang stiefmütterlich behandelt wurde. Personelle Kapazitätsreserven sind jedoch erforderlich, um für die Unsicherheiten der global vernetzten Welt gewappnet zu sein. Schließlich offenbart sich auch beschäftigungspolitische Kurzsichtigkeit: Fachkräfte aus dem Pflegebereich und dem Saisongewerbe werden in den Nachbarstaaten abgeworben, anstatt dass in Deutschland auf massive Anreize und Aus- und Weiterbildung gesetzt wird. Bund, Länder, Kommunen und Tarifpartner sollten dem Struktur- und Wertewandel in einer konzertierten Aktion für systemrelevante Berufe gerecht werden, ihre symbolische Anerkennung durch eine nachhaltige finanzielle Aufwertung ergänzen und sie letztlich den traditionellen männlichen Berufen der Industriegesellschaft gleichstellen.

Die Corona-Krise betrifft Beschäftigte in vielen Bereichen. Das Kurzarbeitergeld hat sich in der Rezession 2008/09 bewährt; in einem bravourösen Kraftakt hat die Regierung das Instrument des Kurzarbeitergelds hochgefahren, um eine Katastrophe zu vermeiden. Doch wie kann man Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor so absichern, dass die Beschäftigten nicht in die Grundsicherung fallen? Wie kann die Zeit der Kurzarbeit besser für Qualifizierung und Weiterbildung genutzt werden? Was wäre nötig, um über das Krisenmanagement hinaus zu denken und zu handeln?

An vorderster Stelle stünde die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, die nicht nur Arbeitslose, sondern auch Erwerbstätige unterstützt. Auch wenn dies nicht die Zeit für Gesetzesreformen ist, könnte dieser Perspektivwechsel schon jetzt stattfinden: Wir brauchen eine atmende Arbeitsversicherung – generös in schlechten, restriktiv in guten Zeiten; eine gemischte und flexible Finanzierung durch Beiträge und Steuern; mehr persönliche Autonomie in der Risikovorsorge und europäische Elemente der Absicherung.

Das Prinzip einer atmenden Versicherung hätte vier unmittelbare Konsequenzen: Das Kurzarbeitergeld für Geringverdiener*innen sollte befristet auf bis zu 100 Prozent Lohnersatz erhöht werden, bei Weiterbildung darüber hinaus. Das brächte einen Motivationsschub, eine neue Wirksamkeit und damit Nachhaltigkeit. Wo immer möglich, sollte Kurzarbeit mit Qualifizierung verknüpft werden, denn der Fachkräftemangel wird sich nach der Krise verschärfen. Die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I sollte befristet um mindestens sechs Monate erhöht werden, um den Abfall in die Grundsicherung zu vermeiden. Das Arbeitslosengeld I für Geringverdiener*innen sollte befristet auf 100 Prozent aufgestockt werden, um einen Lebensunterhalt in einer Zeit zu gewährleisten, wo die Suche nach einem neuen Arbeitsverhältnis hoffnungslos ist. Sanktionsdrohungen bei der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II) sollten abgeschwächt werden; es ist erfreulich, dass die Bundesregierung den Zugang zu dieser Grundsicherung erheblich erleichterte.

Zum Prinzip größerer Autonomie gehört das Recht auf Weiterbildung. Wenn es richtig ist, dass der Qualifikationsbedarf nicht prognostizierbar ist, dann rücken individuelle Einschätzungen in den Vordergrund. Dazu gehören intensive Beratungen für Arbeitnehmer*innen wie Arbeitgeber*innen. Massive Kurzarbeit zum Erhalt des Arbeitsplatzes darf nicht die individuelle Bereitschaft abwürgen, den notwendigen Strukturwandel selbst in die Hand zu nehmen. Dazu müssen Ressourcen planbar zur Verfügung stehen – im jetzigen Krisenfall durch einen Sonderfonds, in Zukunft durch einen Nationalen Bildungsfonds. Zur Umsetzung von Weiterbildung müssen schließlich die unterschiedlichen Ausgangslagen der Beschäftigten durch eine gerechte Risikoteilung berücksichtigt werden. Geringverdiener*innen und kleine Arbeitgeber*innen brauchen größere Unterstützung als Gutverdienende und große Arbeitgeber*innen.

Sehr zu begrüßen ist, dass der deutsche Finanzminister sich mit einer erneuten Initiative für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung gegen eine Renationalisierung des Krisenmanagements stemmt. Dagegen kommt Brüssel nur langsam in Fahrt. Eine Rückversicherung setzt jedoch Mindeststandards der nationalen Arbeitslosenversicherungen voraus. Das wird sich so schnell nicht erledigen lassen. Unmittelbare solidarische Hilfen sind jetzt notwendig, beispielsweise eine massive Aufstockung des Europäischen Sozialfonds. Denn eines ist gewiss: Die pandemische Risikogesellschaft erfordert einen neuen Sozialvertrag, und dieser kann nicht nur auf dem Prinzip des Nationalstaats beruhen.


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9. April 2020 / HW