Kakophonie und Monopol - Politikberatung im dritten Jahrtausend
Ein Beitrag von Guido Friebel und Steffen Huck
“Never waste a crisis” – dieser klassische Aufruf ist dann zu beherzigen, wenn offensichtlich wird, dass bestehende Strategien und Prozesse nicht in der Lage sind, Probleme zu lösen, die zuvor als erträglich empfunden oder gar nicht wahrgenommen wurden. In der Covid-19-Krise gehören dazu die mangelnden IT-Kapazitäten vieler Unternehmen, öffentlicher Verwaltungen und Schulen oder die unsystematische, ad hoc erfolgende Art und Weise, in der sich die Politik von den Wissenschaften beraten lässt.
Während die miserablen IT-Infrastrukturen durch die Krise nur mittelbar unters Brennglas geraten sind, ist der erschütternde Zustand der globalen Politikberatung unmittelbar Teil der Krise und ihrer Überwindung, so dass es an der Zeit ist, ernsthaft über Politikberatung und Medieninformation im 3. Jahrtausend nachzudenken.
Wie kann es sein, dass wir noch immer kein verlässliches Wissen darüber haben, ob, wem und wie Masken wirklich helfen, oder wie groß das Risiko von Übertragungen in Schulen ist? Wie kann es sein, dass die WHO, nachdem eine Studie nach der anderen das Gegenteil kundtat, jüngst verkündete, dass Ansteckungen durch asymptomatische Patienten äußerst rar seien? An lauten Stimmen fehlt es nicht; an einem einheitlichen Gesamtbild dafür um so mehr. Und je größer der Dissens zwischen Experten, desto mehr verkommt der Diskurs zur Schlammschlacht, in der sich so gerne auch Kommentatoren in den Medien, kaum beleckt von Wissen, auf die eine oder andere Seite schlagen.
Die Fokussierung auf die Einzelnen im Gefecht der Vielen mag zwar zu amüsanten Ritterspielen führen, sie versagt aber, wenn es darum geht, auf das immense global verteilte Wissen zurückzugreifen, um damit Öffentlichkeit und Politik besser zu informieren und auch Verschwörungstheorien effektiver vorbeugen zu können. Weder Hendrik Streeck noch Andres Tegnell befinden sich unter den einhundert Top-Virologen der Welt gemessen an der Zahl der Zitationen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Christian Drosten kommt immerhin unter die ersten 40 und bemerkte kürzlich angesichts des Publikationsdefizits seines Widersachers Alexander Kekulé süffisant: „In unserer Community spielt er keine Rolle.“
Wir fragen uns freilich: Was denken eigentlich die anderen Expert*innen auf dieser Liste, die, selbst wenn sie nicht selbst zu Covid-19 forschen, doch sicherlich die neusten Studien verfolgen, um sich eine Meinung zu bilden? Warum wird die Meinung dieser Fachleute nicht in einem großen Panel strukturiert erfragt? Um nur zwei Beispiele zu nennen: Man könnte dann sehen, ob Christian Drostens Skepsis bezüglich der Infektionsgefahr durch Kinder eine Exotenmeinung darstellt oder Mainstream ist. Ebenso erschienen die Gefahren, die von asymptomatischen oder präsymptomatischen Infektionen ausgehen, in klarerem Licht.
Ähnlich stellt sich dies bei Fragen über die Zukunft der Wirtschaft während und nach Corona. Ein Bericht im Handelsblatt zitierte kürzlich einige ungenannte „Top-Ökonomen“, die sich neuerdings der Aufmerksamkeit der Regierung erfreuten. Der Stil des Artikels erinnerte etwas an die Beschreibung von Geheimbünden, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen, die namentlich genannt wurden, hervorragende Wissenschaftler sind.
Warum wird so selten öffentlich gemacht, wer gehört wird, und warum wird nicht auf viele anstatt auf wenige gehört? In einigen Ländern wurden die renommiertesten Wissenschaftler*innen von Regierungen transparent in Gremien berufen, so in Italien und Belgien. Und es existieren erfolgreiche Wirtschaftspolitikpanels, zum Beispiel das an der Universität Chicago beheimatete IGM-Panel, in dem regelmäßig hervorragende Wissenschaftler*innen zu ihrer Meinung befragt werden. Die abgegebenen Meinungen zu unterschiedlichen Fragen werden archiviert, so lässt sich auch im Nachhinein prüfen, wie gut die Einschätzungen der Experten waren. Auch in Deutschland gibt es vergleichbare Initiativen, zum Beispiel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Kollaboration mit dem Münchner Ifo-Institut.
Wichtige aktuelle Debatten sollten nicht dominiert werden von denjenigen, die - oft aus rein historischen Gründen - eine mediale Monopolstellung haben. So wurde das Robert Koch-Institut zu einer Zeit gegründet, als die Aggregation und Verteilung von Information nur mit einer großen Bürokratie möglich war, während elektronische Medien dies heute zu geringeren Kosten und in Realzeit ermöglichen.
Debatten sind wichtig, und sie würden von einer transparenten Organisationsform profitieren. Dies nicht nur, um das globale Wissen zu nutzen und damit unfundierte Behauptungen von wissenschaftlichen Resultaten trennen zu können, sondern auch um die Legitimität der Politikberatung sicherzustellen und damit zu verhindern, dass Expert*innen allzu einfach von Krawallmachern instrumentalisiert werden können.
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11. Juni 2020