Aktienskurs und Coronavius
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Die politischen Folgen von Krisen: Lehren aus der Großen Rezession

Ein Beitrag von Swen Hutter, Endre Borbáth und Sophia Hunger

Als 2008 die Finanzkrise (auch "die Große Rezession" genannt) Europa traf, wandten sich ihre Kommentatoren der Großen Depression der 1930er Jahre zu, um aus deren politischen Folgen zu lernen". Analog dazu richten wir nun unseren Blick auf diese jüngste Wirtschaftskrise. Gestützt auf das ERC-Projekt „Politischer Konflikt in der Großen Rezession“ (z.B. Conti et al. 2018; Hutter & Kriesi 2019; Kriesi et al. 2020).  ziehen wir drei Lehren aus der Krise 2008 und ihren politischen Folgen, die uns Hinweise auf die nächsten Phasen der Corona-Krise geben können.

Lektion 1: Wirtschaftliche Not könnte kulturelle und nicht wirtschaftliche Spaltungen verstärken

Fast alle Volkswirtschaften Europas schrumpften in der Finanzkrise 2008 und 2009. Angesichts der düsteren Aussichten erwarteten Beobachter*innen eine Rückkehr klassischer Links-rechts-Konflikte um soziale Wohlfahrt und Wirtschaftsliberalismus (z. B. Bermeo and Bartels 2014). Wenn wir jedoch auf das Jahrzehnt zurückblicken, zeichnen unsere empirischen Befunde ein anderes Bild. Der übereinstimmende Trend in den europäischen Parteiensystemen zeigt stärkere Konflikte um sogenannte kulturelle Fragen, die nach der Großen Rezession Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen waren. Um welche Themen gestritten wurde – ob um Einwanderung, europäische Integration oder die Art und Weise, wie Demokratie funktionierte (oder nicht) -, variierte allerdings je nach Land. Denn zum einen waren nach der ersten Schockperiode nicht alle Länder gleich stark von der Wirtschaftskrise betroffen. Zum anderen verstärkte die Krise Trends in den jeweiligen Parteiensystemen, die schon lange vor der Rezession zu beobachten waren. Bei allen Unterschieden lässt sich festhalten: Die finanzielle und wirtschaftliche Ausprägung der unmittelbaren Krise bestimmte keineswegs die Form der anschließenden Konflikte.

Lektion 2: Es braucht Zeit! Die Stunde der Radikalen ist noch nicht gekommen

Analog zu der Erwartung neuer ökonomischer Konflikte rechneten Beobachter*innen auch mit der Rückkehr eines Richtungsstreits zwischen den Volksparteien; die Frage war nur, ob das Pendel nach links oder rechts schwingen würde (z. B. Lindvall 2014). Die kurz- und langfristigen Reaktionen der Bürger*innen auf die Große Rezession waren jedoch unberechenbarer und wechselhafter als gedacht. In der ersten Phase schwang das Pendel meistens ein wenig nach rechts, stark in Abhängigkeit davon, wer in der Regierungsverantwortung stand, als die Krise zuschlug. In der nächsten Phase verloren jedoch alle Volksparteien deutlich an Stimmen. Das liegt daran, dass die kurzfristige Logik, das Misstrauen gegenüber der eigenen Regierung, abgelöst wurde von einer langfristigen Logik, dem Vergleich der eigenen Regierungsleistung mit der von anderen Ländern der Region. Als die Erholung nur schleppend vorankam und in einigen Ländern ein Eingreifen der Troika erforderlich wurde, bestraften die Wähler*innen zunächst ihre Regierung, indem sie für die etablierten Oppositionsparteien stimmten. Erst als ihre Geduld mit „allen“ etablierten Parteien zu Ende ging, wandten sie sich je nach Makroregion linken oder rechten radikalen Parteien zu. So kam die Stunde der radikalen Parteien erst in der zweiten oder dritten Krisenwahl, als die Wut des Wahlvolks am größten war. Die (Miss-)Erfolge der griechischen Parteien sind in dieser Hinsicht aufschlussreich. Enttäuscht von der sozialdemokratischen PASOK-Regierung stimmten die Griechinnen und Griechen zunächst für die Mitte-rechts-Regierung der Neuen Demokratie (Nea Dimokratia) und brachten erst bei der vierten Krisenwahl im Januar 2015 die linke Herausforderin, Syriza, ins Amt. Obwohl solche Sequenzen keineswegs automatisch verlaufen, zeigen sie doch, dass politische Reaktionen auf eine Krise ihrer eigenen politischen, nicht linearen Dynamik folgen.

Lektion 3: Schaut auf die Straßen! Bewegungspolitik als Quelle der Erneuerung

Proteste in Straßen und auf Plätzen hatten in der Großen Rezession weitreichende politische Folgen. Sie lenkten die Aufmerksamkeit auf neue Themen und boten ein Sprungbrett für neue Akteure (della Porta et al. 2017). Die Bewegungspolitik in der Großen Rezession wurde oft unterschätzt, da die Krise nicht einen einheitlichen europäischen Protestzyklus auslöste, sondern eher Wellen mit regionalen und nationalen Varianten. Allen Protestakteuren war jedoch gemeinsam, dass sie mit neuen Aktionsformen experimentierten. Beste Beispiele hierfür waren Occupy Wall Street und die Indignados in Südeuropa mit ihren Protestcamps, öffentlichen Versammlungen und politischen Streiks. Diese Aktionen wurden zu starken Symbolen für die Missstände nach der Krise und lenkten weltweit die Aufmerksamkeit auf die wirtschaftlichen und politischen Forderungen der Protestierenden. Slogans wie „Wir sind 99%“ oder Rufe nach einem universellen Grundeinkommen oder einer Finanztransaktionssteuer fanden ebenso Widerhall wie die Forderungen nach einer umfassenden Erneuerung demokratischer Prozesse. Interessanterweise institutionalisierten sich diese Bewegungen rasant und erreichten so schnell wie kaum zuvor das Parlament. Die anschaulichsten Beispiele sind die linke Partei Podemos in Spanien und das ideologisch hybride Movimento 5 Stelle in Italien. Aber auch die radikale Rechte in Deutschland und in anderen Ländern profitierte von der Protestdynamik auf der Straße. Diese Akteure prägten die politischen Folgen der Großen Rezession daher in einer traditionell elektoralen Logik, die kaum vorstellbar gewesen war, als die ersten Protestierenden 2010 auf die Straße gingen.

Die Corona-Krise unterscheidet sich in vielen Aspekten von der Großen Rezession, und es ist zu früh, das Ausmaß und die Form der Krisen abzuschätzen, die Europa in ihrem Zuge erleben wird. Jedoch dürfte aus den Erfahrungen nach der Großen Rezession klar geworden sein, dass wir die langfristigen politischen Folgen einer Krise nicht vorschnell aus ihrer ersten Schockperiode ableiten sollten. Vorhersagen über ein Wiederaufflammen traditioneller Wirtschaftskonflikte, einen Richtungswettbewerb zwischen etablierten linken und rechten Parteien sowie über eine grundlegende politische Erneuerung „von unten“ haben sich als kurzsichtig erwiesen. Die vielen bekannten Unbekannten in der gegenwärtigen Situation sollten uns daher noch vorsichtiger stimmen.

 

 

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13. Mai 2020