Zwischen Plattformkapitalismus und öffentlicher Gesundheitsvorsorge: Daten-Technologien in der Corona-Epidemie
Ein Beitrag von Timo Daum
Wir leben im Zeitalter von Big Data. In allen Lebensbereichen ist die Auswertung und Verwertung persönlicher Daten zum integralen Bestandteil von Diensten und Geschäftsmodellen des digitalen Kapitalismus geworden. Fast alle Deutschen besitzen ein Smartphone (bei den 14- bis 59-Jährigen sind es 98 Prozent), auf dem im Schnitt 80 Apps installiert sind, viele von ihnen mit Zugriff auf Kontakte und Lokalisierungsdaten. Reiseziel des durch die Nutzung generierten Datenstroms sind die Server der Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley. Google und Apple sind hier unangefochtene Marktführer, der Marktanteil ihrer Plattformen für mobile Endgeräte beträgt in Deutschland 99,1 Prozent.
Die Digitalkonzerne entdecken immerzu neue Betätigungsfelder. Derzeit hoch im Kurs: der Gesundheitssektor. Google erwarb 2019 den zweitgrößten US-amerikanischen Gesundheitsdienstleister Ascension und damit den Zugriff auf 50 Millionen Patient*innenakten. Apple wiederum ist Marktführer im Bereich der Wearables, Minicomputer, die nah am Körper getragen werden. In Deutschland benutzen bereits 17 Millionen Menschen Fitness-Apps. Apple-Chef Tim Cook schwärmte kürzlich, „Apples größter Beitrag für die Menschheit“ werde bald im Gesundheitsbereich zu verorten sein.
Derzeit ist viel die Rede von der Kontaktverfolgungs-App der Bundesregierung. Damit die App funktioniert, ist eine breite Akzeptanz nötig; eine Studie aus Oxford gibt 60 Prozent der Bevölkerung als Schwellenwert an. Die Bereitschaft, sie zu nutzen, ist durchaus da, auch in Deutschland. Ihr erfolgreicher Einsatz in einigen asiatischen Ländern scheint ihre Effektivität zu bestätigen. Die weltweit erste Contact-Tracing-App „TraceTogether“ ging am 20. März in Singapur an den Start, von der Regierung beauftragt und mit offenem Quellcode ausgestattet. Jedoch hat erst knapp ein Fünftel der Bevölkerung des Landes sie installiert; am 21. April rief Premierminister Lee Hsien Loong daher erneut dazu auf, die App zu installieren und zu nutzen.
Auch in Deutschland hat die Regierung eine Contact-Tracing-App angekündigt. Vorangegangen waren heftige Diskussionen über die Frage, ob die Daten zentral oder nur in Mobiltelefonen (dezentral) gespeichert werden sollen. Für die zentrale Lösung spricht, dass die Daten von Epidemiolog*innen ausgewertet werden können; für die von der Regierung letztlich beschlossene dezentrale Lösung spricht, dass mit ihr das Einsehen der Informationen durch Dritte ausgeschlossen ist. Dabei ähneln sich beide Systeme stark: Sie teilen jedem Gerät eine zufällig generierte Nummer zu, die sich zudem regelmäßig ändert (Pseudoanonymisierung). Im Kontaktfall wird zunächst die fremde Nummer lokal in einer Kontaktliste gespeichert. Wer positiv auf Covid-19 getestet wird, kann nachträglich die Liste freigeben, damit die Kontaktpersonen automatisch die Empfehlung erhalten, sich testen zu lassen. Wohlgemerkt: Der Download und die Nutzung der App sind freiwillig, jeder kann zudem sein Handy zu Hause lassen oder auf Flugmodus umschalten. Es werden keine persönlichen Informationen, Namen, Telefonnummern oder gar Daten zum Gesundheitszustand gespeichert.
Hier offenbart sich ein Paradox: Auf der einen Seite beweist die hitzige Debatte ein hohes Maß an Skepsis gegenüber staatlich orchestrierten datenbezogenen Maßnahmen. Auf der anderen Seite steht die in grandiosem Ausmaß stattfindende Datensammlungspraxis privater Konzerne, die von den meisten User*innen gedankenlos Tag für Tag mit einem Klick genehmigt wird. Shoshana Zuboff spricht hier vom Überwachungskapitalismus, in dem die anlasslose Sammlung von personenbezogenen Daten zur Kernaktivität von Konzernen geworden ist. Contact-Tracing ist das Tagesgeschäft auf den Plattformen des digitalen Kapitalismus.
Möglicherweise offenbart diese kognitive Dissonanz einen kollektiven Verdrängungsmechanismus, dem wir alle unterliegen: Haben wir einen marktlogischen Umgang mit unseren eigenen Daten soweit verinnerlicht, dass wir sie den Digitalkonzernen widerstandslos überlassen, den Gesundheitsbehörden aber die Nase vor der Tür zuschlagen? Bei allem gesunden Misstrauen: Hier sollten wir unsere Widerstände überdenken.
Mehr noch: Um in einer (bald wieder) globalisierten Welt effektiv wirksam zu sein, sollten nicht nationale Regierungen, sondern die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine globale Contact-Tracing-App erstellen, ihre gesammelten Daten unter Berücksichtigung des Datenschutzes verwalten und ihren Einsatz orchestrieren.
Eine solche globale Lösung stößt sicher nicht auf Gegenliebe bei Google und Apple. Die aus Google Life Sciences hervorgegangene Firma Verily Life Sciences hat ihr eigenes Covid-19-Tracing-Projekt namens „baseline“ lanciert, sein Motto lautet: „We’ve mapped the world, now let’s map human health.“ Eine globale Tracing-App der WHO würde ihr dieses Geschäft mit der menschlichen Gesundheit vermasseln.
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06. Mai 2020