Ach, Afrika?
Der blinde Fleck im Zukunftsprogramm der SPD
Günther Schmid
In der Augenheilkunde verursacht die Austrittsstelle des Sehnervs aus der Retina eine punktuelle Blindheit. Auf die Gesellschaft übertragen: Dort, wo wir selbst sind, können wir nicht hinsehen. Weil das so ist – sagen Psychologen –, entwickeln wir Abwehrmechanismen, beginnen zu rationalisieren, zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Solche Abwehrmechanismen, sagen sie weiter, haben auch eine wertvolle Schutzfunktion für die Psyche und dürfen nicht von vorneherein nur negativ bewertet werden.
Aber können wir uns diesen „blinden Fleck“ noch für einen ganzen Kontinent leisten? Einen Kontinent, der nach neuesten Prognosen in ein bis zwei Generationen wenigstens ein Drittel, vielleicht sogar fast die Hälfte der Weltbevölkerung stellt? Die Bevölkerung in Deutschland wird in 2100 voraussichtlich von 83 (2017) auf 66 Millionen zurückgehen, in Westeuropa von 433 auf 374 Millionen und in China fast um die Hälfte schrumpfen. Dagegen wird die Bevölkerung von Subsahara-Afrika sich von etwa 1 Milliarde (2017) auf 3 Milliarden (2100) verdreifachen, und in Nordafrika (inklusive Naher Osten) werden fast 1 Milliarde Menschen leben. Die USA – wie auch Australien und Kanada – werden ihren Bevölkerungsstand weiter halten oder gar deutlich steigern, wenn sie ihre liberale Einwanderungspolitik aufrechterhalten.
Diese mögliche Entwicklung ficht die SPD nicht an. In ihrem 64-seitigen Zukunftsprogramm taucht „Afrika“ nur einmal auf. Unter „Souveränes Europa in der Welt“ nimmt sich die ehemalige Volkspartei vor: „Europa und Afrika verbindet eine enge Partnerschaft auf Augenhöhe, die wir weiter vertiefen werden.“ Fairerweise muss erwähnt werden, dass im Programm noch einige guten Absichten der Entwicklungszusammenarbeit auftauchen: Die Quote offizieller Entwicklungshilfe (ODA) von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens soll eingehalten, der Kolonialismus „aufgearbeitet“ und die Entwicklungszusammenarbeit auf europäischer Ebene zusammengeführt werden.
Fairerweise muss weiter hinzugefügt werden, dass das doppelt so umfangreiche Grundsatzprogramm von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht wesentlich ergiebiger ist. Das Wahlprogramm der CDU/CSU liegt noch nicht vor. Immerhin bezweifeln die GRÜNEN die „enge Partnerschaft auf Augenhöhe“, indem sie zwei zentrale Defizite bisheriger Entwicklungszusammenarbeit ansprechen: „Insbesondere die Afrikanische Union sollte beim Aufbau ihrer Kapazitäten gestärkt und der Selbstvertretungsanspruch der afrikanischen Länder in internationalen Foren unterstützt werden.“
In ihrem noch umfangreicheren Programm (148 Seiten) ist DIE LINKE etwas ambitionierter und legt den Finger auf einen weiteren wunden Punkt: Eine Europäisierung, die auch die GRÜNEN fordern, ist noch keine Garantie für eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“. Etwas überzogen formuliert fordert DIE LINKE: „Es muss Schluss damit sein, dass Nahrungsmittelmärkte von außen mit Lebensmitteln – wie durch in der EU subventionierte Lebensmittel – überschwemmt werden.“ Ihre populistisch-radikalisierende Ablehnung bisheriger Entwicklungspolitik („Instrument [post ] kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung“) wird jedoch weder einigen zwar zaghaften, doch guten Ansätzen der derzeitigen Koalitionsregierung gerecht, noch findet sie Ausdruck in einem überzeugenden Konzept europäisch-afrikanischer Entwicklungszusammenarbeit.
Doch zurück zur SPD: Wie könnte ein derartiges Konzept aussehen? Gewiss ein weites Feld und gewiss auch in einem Parteiprogramm nicht durchdeklinierbar. Dabei böte gerade die parteieigene Denkfabrik der SPD Anregungen genug, den blinden Fleck ins Auge zu fassen und – gemeinsam mit Afrika – einen Diskurs in Gang zu setzen, um der „Zukunft“ in ihrem Programm Konturen zu geben (z. B. Robert Kappel). Diese Zukunft bedarf jedoch auch eines scharfen „Rückblicks“, um über den blinden Fleck hinwegzukommen.
Zur viel bemühten „Aufarbeitung“ des Kolonialismus könnte z. B. an die Berliner Konferenz von 1884/85 erinnert werden. Dort bot Europa unter deutscher Federführung (Bismarck) der Welt ein makabres Schauspiel an: „the scramble of Africa“ – das Gerangel um die afrikanischen Kolonien. In der Folge beuteten europäische Staaten gleichsam in Arbeitsteilung den afrikanischen Kontinent aus, führten brutale Vernichtungskriege bis zu Genoziden und verstümmelten die Entwicklungspotenziale Afrikas in unmenschlicher Weise. Noch liegen viele Wunden offen und tausende jugendliche Afrikanerinnen und Afrikaner suchen in der Flucht vor wirtschaftlichem Elend oder despotischen Machthabern ihr Heil in Europa. Europa versucht derzeit sich abzuschotten, aber das wird nicht gelingen.
Wäre es nicht an der Zeit, der Welt ein anderes und würdiges Schauspiel zu bieten und Afrika eine Art europäisch-afrikanischen New Deal anzubieten? Im Fokus dieses Schauspiels würden dann nicht natürliche und erschöpfbare Ressourcen wie Land, Öl und Mineralien stehen, sondern menschliche und unerschöpfliche Ressourcen. Neben Offenheit für Einwanderung müssten Kultur und vor allem Bildung als Entwicklungspotenziale hervorgehoben werden.
Trotz hehrer Ziele vieler internationaler Initiativen, allen voran der UNO oder der Globalen Bildungspartnerschaft, ist Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit Europas mit Afrika noch stark unterrepräsentiert . Im mageren Budget des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (10,9 Mrd. Euro) machen die Bereiche Kultur und Bildung nur etwa 12 Prozent aus; der engagierte Minister Gerd Müller will das mittelfristig auf 25 Prozent steigern, hat aber wegen mangelnder Unterstützung seiner Partei das Handtuch geworfen.
Was könnte auf einem Kultur- und Bildungsgipfel besprochen werden? Die Globale Bildungspartnerschaft, an der Deutschland nur marginal beteiligt ist, aber auch Erfahrungen engagierter NGOs legen z. B. folgende Punkte nahe: erstens die Stärkung der Berufsausbildung als Korrektur der aus der Kolonialzeit stammenden Vorherrschaft akademischer Bildung; zweitens Investitionen in digitale Schulinfrastrukturen; drittens Stärkung afrikanischer Sprachen im Bildungswesen; viertens Investitionshilfen für didaktische Kapazitäten, vor allem Lehrerfortbildung; fünftens Überwachung und Evaluierung der Unterrichts- und Bildungsqualität; sechstens die Dezentralisierung der Entwicklungszusammenarbeit. Deutsche und europäische Städte könnten einen gesetzlichen Auftrag nebst größerem finanziellem Handlungsspielraum erhalten. Eine kommunalisierte Entwicklungspolitik würde sich natürlich nicht auf Bildung beschränken, sondern auch kommunale Aufgaben einbeziehen wie Abfall-, Abwasser- und Energiewirtschaft, öffentlichen Nahverkehr und digitale Infrastruktur bis hin zu Problemen der Korruptionsbekämpfung oder Flüchtlingsintegration.
Bei einem von Deutschland initiierten Europa-Afrika-Bildungsgipfel würde auch deutlich werden, dass Afrika technologisch teils – und mehr als wegen der Afrika-Berichterstattung vermutet werden könnte – weit entwickelt ist und Europa Anregungen auf Augenhöhe bieten kann, beispielsweise bei der elektronischen Bezahlung, bei digitalen Mikrokrediten, mobilen Breitbandsystemen bis hin zu cleveren Startups. In der globalen Welt geht es nicht mehr vorrangig um den Austausch von materiellen Gütern. Es muss vielmehr – wie Felwine Sarr in seinem Buch Afrotopia überzeugend formuliert – um den „Austausch authentischer Beziehungen“ gehen, in denen Maßstäbe der Gerechtigkeit, Gleichheit, Würde, wirtschaftlicher und sozialer Freiheit verlässlich gelten.
Die eingangs zitierte Lancet-Studie legt in ihren Modellen besonderen Wert auf die Faktoren Bildung und Gesundheit. Würden die entsprechenden nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO – vor allem zur Bildung für Mädchen, zu Verhütungsmitteln und zu gesundheitlichen Vorkehrungen bei der frühkindlichen Entwicklung – bis 2030 tatsächlich umgesetzt werden, würde die Bevölkerung von Subsahara-Afrika nicht auf 3 Mrd., sondern möglicherweise nur auf 1,6 Mrd. ansteigen. Mit Gewissheit käme das der Gleichstellung, Gesundheit und Befreiung der Frauen zugute. Bei der derzeitigen Umsetzungsgeschwindigkeit sind wir aber noch weit von diesen Zielen entfernt.
Ach, Afrika? Ach, SPD! Derzeit schämen sich Teile ihrer Führungsspitze der angeblich rückwärtsgewandten Weltsicht einiger ihrer älteren Genossinnen und Genossen. Es wäre jedoch angemessener, wenn wir uns alle der fatalen Stellung unseres „Sehnervs in der Retina“ bewusst würden, um den Blick über den großen, ja übergroß werdenden blinden Fleck „Afrika“ hinaus zu schärfen und Afrika die Hand zu reichen. „Rückwärts“ gewandt besteht aller Anlass zur Scham; „vorwärts“ gewandt ohne notwendigen Weitblick – das zeigt das Beispiel Afrika – könnte das sichere Ende einer einst weltoffenen Partei bedeuten.
22.3.21