Modern?
Das trügerische Mantra im CDU/CSU-Wahlprogramm
Von Günther Schmid
„Gemeinsam für ein modernes Deutschland“ lautet der Untertitel des CDU/CSU-Wahlprogramms. Und in der Tat: Wer dieses 140 Seiten starke Werk liest, stolpert in vielen Zeilen über das Stichwort „modern“. Kein Feld, das die CDU/CSU in der Zukunft bestellen will, ist dagegen gefeit: Angefangen vom „modernen Staat“, „modernen Europa“, „modernen Föderalismus“ oder von „moderner Justiz“ bis hin zur „modernen Arbeitswelt“, zum „modernen Vergaberecht“ oder gar „modernen Afrikabild“, gerne auch mit prätentiösen Steigerungen wie „modernste Umwelttechnologie“ und „modernste Roboter“. „Modern“ ist gleichsam zum Mantra dieser „modernen Partei“ geworden.
Folgen wir Wikipedia, dann bezeichnet Mantra „eine heilige Silbe, ein heiliges Wort oder einen heiligen Vers. Diese sind ‘Klangkörper‘ einer spirituellen Kraft, die sich durch repetitives Rezitieren im Diesseits manifestieren soll. […] Die Idealvorstellung ist also, dass, während das Mantra rezitiert wird, sich der Geist an die positiven Inhalte der Worte des Mantras bindet und somit nicht mit anderen, d. h. negativen Gedanken beschäftigen kann.“ Allerdings: Eine zur bloßen Routine gewordene Wiederholung – dafür bieten die „Wortdesigner“ dieses Programms genügend Versuchungen an – kann dazu führen, das „Heilige“ zu vergessen und – wie der Berliner CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner verkündete – den Sonntag für „Spätis“ zu öffnen und so wegen einer banal-alltäglichen Dringlichkeit zu entheiligen (Der Tagesspiegel, 25.06.2021).
Nun kann man wie Heribert Prantl der Meinung sein: „Wahlprogramme sind wie Kopfkissen – sie sorgen für einen besseren Schlaf. Alles andere ist eine Vision.“ (Süddeutsche Zeitung, 26. Juni 2021, S. 5) Demgegenüber steht die Auffassung vieler Manager erfolgreicher Unternehmen bis hin zu wissenschaftlich reputierten Bestsellerautorinnen (z. B. Mariana Mazzucato: „Mission Economy“), die gerne und bis zum Verdruss Antoine Saint-Exupérys Vision zitieren: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, die Holz beschaffen, Werkzeuge vorbereiten, Holz bearbeiten und zusammenfügen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, unendlichen Meer.“ Welche „Sehnsucht“ will das Programm in den Wählerinnen und Wählern wecken?
Die erste und grobe Antwort ist einfach und dem Programmtitel zu entnehmen: Es ist die Sehnsucht nach „Stabilität“ und „Erneuerung“. Das „Schiff“ – die Kommunen, die Länder, der Bund, Europa – soll im Kern erhalten bleiben und lediglich renoviert werden. Die Partei definiert Modernität schlicht mit: „das Gute besser machen“ (Zeilen 12/3) und das auch noch „mit Maß und Mitte“ (Zeilen 25/6). Von einem Aufbruch in ein neues Zeitalter, zu einem neuen Denken oder gar zu einem neuen Paradigma ist nicht die Rede.
Wie die Begriffsgeschichte nahelegt, ist Moderne jedoch durch zwei miteinander eng verbundene Bedeutungen gekennzeichnet: Autonomie und Aufklärung. Philosophie und Kunst waren die Wegbereiter. Anfänglich meist, ohne den Begriff „modern“ zu bemühen. Die ersten Verwendungen des Begriffs in Europa waren auch eher mit Skepsis verbunden. In einer Auseinandersetzung mit romantischer Kunst und Literatur schrieb Charles Baudelaire 1868: „Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.“ Baudelaire beschwor seine Leser, auch die Moderne müsse sich den Schönheits- und Wahrheitsidealen der Antike verpflichten, sollte sie nach dem Ewigen im Transitorischen streben.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch mit der Antike gebrochen: Anlass war die Kritik an den Pilgerfahrten vornehmlich englischer Adliger und großbürgerlicher europäischer Intellektueller nach Italien, an der 9-monatigen „Grand Tour“ über die Alpen nach Genua, dann Rom und – maximal – bis nach Neapel, denn: „Europa endet in Neapel und dort nimmt es auch ein eher schlechtes Ende. Kalabrien, Sizilien und alles Übrige ist Afrika“ (so schrieb der französische Poet Creuzé de Lesser noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts). Goethes erste „Reise nach Italien“ (1786) lässt grüßen. Max Liebermann konnte darüber nur sarkastisch spotten: In Italien gäbe es nichts zu sehen „als uffjeklappte und zujeklappte Rejenschirme“. Er meinte damit vordergründig die mediterranen Pinien und Zypressen, hintergründig freilich alle Bildungslandschaften antiker, römischer, klassischer Prägung. Für Liebermann und die sich zur Moderne bekennenden Leser war autonome und aufgeklärte Kunst voraussetzungslos. Die Bauhaus-Bewegung trieb diese Auffassung dann auf die Spitze, indem sie die unendlichen Variationen über Formen des Elementaren zum Programm erhob.
Im CDU/CSU-Programm mangelt es nicht an „uff- und zujeklappten Rejenschirmen“, das Flair eines Aufbruchs in neue, noch wenig erforschte Welten des globalisierten sozialen Lebens strömen sie nicht aus. Greifen wir zunächst das „moderne Afrikabild“ auf: Auf 25 der 4.998 Zeilen plädiert die CDU/CSU für eine „Entwicklungspartnerschaft mit Afrika“ mit wohlgemeinten Intentionen, z. B. „vertiefte institutionelle Partnerschaft in Form eines EU-Afrikarats“ und Investitionen zugunsten einer „Energiewende“ auch in Afrika. Wichtig und richtig auch die Forderung, Mädchen und Frauen in Afrika das Recht auf Selbstbestimmung zu gewährleisten. Im Vordergrund des „modernen Afrikabildes“ stehen jedoch eindeutig sicherheitspolitische Absichten, bemäntelt mit „Bekämpfung von Fluchtursachen“ (Armut) und „illegaler Migration“ (Rücknahme eigener Staatsangehöriger). Die Partei sehnt sich nach einer Europabehörde, die Asylverfahren schon in den Vorzimmern der Festung Europa regelt und die afrikanischen „Partner“ dazu befähigt, Terror und „illegale“ Migration in einer (bislang ebenfalls erträumten) Afrikanischen Union in Schach zu halten. Die Tatsache, dass Armut nur eine und nicht einmal die entscheidende Fluchtursache ist, wie der ausgewogene Bericht der Expertenkommission der Bundesregierung dokumentiert, lässt die Modernität des Afrikabilds verblassen. Neben dem gewiss nicht zu übersehenden physischen Hunger ist es vor allem der schreiende Hunger nach Kultur- und Bildungsangeboten, nach Rechts- und Sozialstaatlichkeit, nach verlässlicher und rationaler Regierung, der viele Jugendliche zur oft lebensgefährlichen Migration treibt. Gewiss notiert das CDU/CSU-Programm auch die Notwendigkeit der Korruptionsbekämpfung, aber dieses Programmziel ist – wie Analysen vor Augen führen – kein afrikanisches Spezifikum, sondern gilt auch für das eigene Haus. Ein „modernes Afrikabild“ und davon abgeleitete Politik müsste daher stärker an den wirklichen Sehnsüchten der afrikanischen Jugend ansetzen und eine kulturelle Entwicklungspartnerschaft in den Vordergrund stellen. Partnerschaft auf Augenhöhe setzt voraus, deutliche Zeichen zu setzen, sich von der anderen Kultur nicht abgrenzen, sondern von ihr lernen zu wollen.
Die Sehnsucht der CDU/CSU hält sich auch in Grenzen, was das „moderne Europa“ angeht. „Stabilität in ganz Europa“ (Zeile 200) steht u. a. mit einem eigenen Kapitelabschnitt ganz im Vordergrund, während von der „Erneuerung Europas“ nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. Ganz entschieden plädiert die christliche Partei für „eine echte Stabilitätsunion und keine Schulden- und Haftungsunion“ (Zeilen 647/8). Die „echte“ Stabilität sieht sie vor allem in der Sicherheit, bis hin zum Bekenntnis: „Rüstungsexporte sind dabei ein gestaltendes Element der Sicherheitspolitik“ (Zeile 347). „Erneuerung“ überlässt die Partei ansonsten überwiegend der „Kultur- und Kreativwirtschaft“, der sie weiterhin ein dynamisches Wachstum wünscht (Zeilen 4878-82). Die expliziten Absagen an Elemente einer europäischen Sozialunion, u. a. einer europäischen Arbeitslosenversicherung, könnten nicht deutlicher sein, obwohl „Subsidiarität als Leitgedanke“ (Zeile 987-8) unter dem Gesichtspunkt der Autonomie ganz anders ausgelegt werden könnte: Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Kluft zwischen Nord und Süd nach der Pandemie (soweit sie je ein Ende finden sollte) weiter auseinanderdriften wird, wenn dem „Wiederaufbauprogamm Europa“ kein weiteres kühnes europäisches Programm folgt, das – wie es der amerikanische Präsident Joe Biden in den USA vormacht – den schwächeren Mitgliedstaaten erlaubt, auf eigenen Beinen den gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel zu meistern.
Ohne weitere massive Investitionen von Norden nach Süden – nicht nur in produktive Kapazitäten, sondern auch in Kapazitäten sozialer Umverteilung – wird sich die schon jetzt sichtbare Erosionstendenz Europas weiter verstärken. Ein modernes Europa ist ohne Sozialunion und damit – horribile dictu – ohne Transferunion nicht zu haben. Wenn, frei nach dem großen Aufklärer Immanuel Kant (Metaphysik der Sitten), Modernität entschieden auch ein Programm der Etablierung und Gewährleistung „bürgerlicher Selbständigkeit“ sein sollte, dann sind eine einigermaßen gleiche Ausstattung mit finanziellen Ressourcen sowie die Gewährleistung sozialer Sicherheit zur Bewältigung von Krisen zentrale Bestandteile eines modernen Europas. Wie aber Europa-Politik sich der wirtschaftlichen und sozialen Kluft innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten entgegenstemmen könnte, davon ist im CDU/CSU-Programm kaum die Rede: etwa mit der Idee eines Europäischen Bürgerfonds zur Minderung ungleicher Vermögensverteilung oder mit der Idee eines Europäischen Arbeits- und Sozialfonds, der nicht nur kleinen konjunkturellen Wirtschaftskrisen, sondern auch pandemischen Krisen und dem gewaltigen Anpassungsbedarf an den digitalen und ökologischen Strukturwandel gewachsen ist.