Lateinamerika Covid
Tarik Kizilkaya / E+ / Getty Images

Demokratische Innovationen gegen Covid-19 in Lateinamerika

Von Thamy Pogrebinschi

Die Pandemie hat Regierungen weltweit unvorbereitet getroffen. Staatliche Akteure sahen sich gezwungen, innerhalb kürzester Zeit und unter schwierigen Bedingungen Antworten auf völlig unvorhergesehene Problemlagen zu finden.

Besonders hart getroffen hat das Virus die Länder auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Nicht nur das historisch gering ausgeprägte staatliche Durchsetzungsvermögen (state capacity), sondern auch das gleichzeitig überdurchschnittlich hohe Ungleichheitsniveau haben anscheinend gute Voraussetzungen für eine rasante Verbreitung des Virus geboten. In einigen Ländern hat sich der Notstand aufgrund der bestehenden Wirtschaftskrise, sozialen Unruhen und politischen Instabilität noch weiter verschärft. Die Folgen: In Lateinamerika befindet sich die Hälfte der zehn weltweit am schlimmsten vom Corona-Virus betroffenen Länder. Ein Drittel aller durch Covid-19 verursachten Todesfälle wurden dort verzeichnet.

Die Bewältigung von Krisenlagen erfordert soziale Intelligenz, denn schließlich können die Staaten ihre Reichweite und ihr Durchsetzungsvermögen nicht einfach über Nacht ausbauen. Dem stehen gegenüber – als prinzipiell unerschöpfliche Ressource – Kompetenzen des Gemeinwesens zur Verfügung. Vervielfacht haben sich mit der Digitalisierung die Möglichkeiten dessen, was mit John Dewey als soziale Intelligenz bezeichnet werden kann – und was heute besser unter den Begriffen kollektive Intelligenz (Pierre Lévy), Weisheit der Vielen (James Surowiecki) oder demokratische Vernunft (Hélène Landemore) bekannt ist.

Gemeinsam ist solchen Konzepten, dass sie wirkungsvolle Instrumente bezeichnen, die staatlichen Akteuren während Krisensituationen zur Verfügung stehen. Sie können dabei helfen, soziale und politische Problemlagen erfolgreich zu meistern, durch die kollektive Erzeugung und Inanspruchnahme von Wissen, Informationen, Kompetenzen, Ressourcen und Daten durch Bürgerinnen und Bürger.

Die Covid-19-Pandemie bietet die Voraussetzung, soziale Intelligenz als kreativen Problemlöser zu verstehen. Sie ermöglicht es staatlichen Akteuren, sich mittels neuartiger Verknüpfungen und kreativer Zusammenarbeit neu zu erfinden und sich auf jene Herausforderungen einzustellen, die auch nach Ende der Pandemie weiter Bestand haben werden. Unter kreativer Zusammenarbeit verstehe ich Formen der Kommunikation, Aktion und Zusammenarbeit unter Bürger*innen, zwischen Bürger*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie zwischen den beiden erst genannten Gruppen und ihrer jeweiligen Regierung. Alle verfolgen als gemeinsames Ziel, jene Probleme anzugehen, von denen alle gleichermaßen betroffen sind und auf die der Staat allein nicht zufriedenstellend antworten kann.

Während einige Länder Lateinamerikas weiterhin mitten in der Pandemie stecken und ihre Regierungen entweder nicht in der Lage oder nicht gewillt waren, ihr etwas entgegenzusetzen, hat die Zivilgesellschaft in den letzten Monaten damit begonnen, eine beträchtliche Anzahl digitaler demokratischer Innovationen auf die Beine zu stellen.

Laut den jüngsten Erhebungen unseres LATINNO-Projekts mit Daten aus 18 lateinamerikanischen Staaten gingen zwischen dem 16. März und dem 1. Juli dieses Jahres mindestens 400 digitale demokratische Innovationen mit dem Auftrag an den Start, die Covid-19-Krise wirksam zu bekämpfen. Bei all diesen Innovationen handelt es sich um Ansätze, mit deren Hilfe Bürger*innen durch Digitaltechnologien in die Lage versetzt werden, die sozialen, politischen und humanitären Folgeerscheinungen der Pandemie anzugehen. 

Digitaltechnologien operieren als Katalysatoren sozialer Intelligenz, indem sie Bürger*innen zu Problemlöser*innen machen. Sie verknüpfen und verbreiten Wissen, Informationen, Daten und Kompetenzen, um Sachverhalte anzugehen, deren Lösung normalerweise in das Aufgabengebiet von Regierungen fällt.

Ein Beispiel bietet das Crowdsourcing. Es kann dabei helfen, politische und soziale Probleme anzugehen und das Handeln überforderter politischer Entscheidungsträger, insbesondere in Notsituationen, zu optimieren. Crowdsourcing umfasst Mechanismen zur Sammlung von Ideen, Fachwissen und Daten und zur Problemerfassung. Durch das kollektive Wissen stehen den Regierungen beträchtliche Mengen an Informationen aus Quellen zur Verfügung, die sonst wahrscheinlich nicht zugänglich wären. Crowdsourcing erleichtert nicht nur das Sammeln; es ermöglicht auch einer unbegrenzten Anzahl von Bürgern, sich an allen Phasen des politischen Prozesses zu beteiligen und dazu beizutragen.

Die große Mehrheit der vom LATINNO-Projekt erfassten digitalen demokratischen Innovationen ging von zivilgesellschaftlichen Akteuren aus. Drei Viertel aller Initiativen weisen keinerlei Regierungsbeteiligung auf. Das ist bemerkenswert in einer Weltregion, die bekannt dafür ist, auch aufgrund der Demokratisierungsbemühungen des späten 20. Jahrhunderts, Formen staatlich gelenkten Zivilengagements zu privilegieren. Bei der Bekämpfung des Virus nimmt die Zivilgesellschaft heute in den allermeisten lateinamerikanischen Staaten einen zentralen Platz ein, vor allen Dingen dort, wo die Regierung nicht (Brasilien und Nicaragua) oder nur verspätet (Mexiko) eingriff, aber auch dort, wo aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Ressourcen (Argentinien), einer maroden Infrastruktur (Peru) oder schlichter Ineffizienz (Chile) nur unzureichend gehandelt wurde.

Auf Grundlage der im LATINNO Projekt erhobenen Daten lässt sich zeigen, dass digitale demokratische Innovationen die Herausforderungen, die durch den Ausbruch von Covid-19 entstanden sind, auf fünf unterschiedliche Weisen angehen: erstens durch die Generierung zuverlässiger Informationen und Daten; zweitens durch die geografische Verortung von Problemen, Bedürfnissen und Anforderungen; drittens durch die Mobilisierung problemorientierter Ressourcen, Fertigkeiten und Wissensvorräte; viertens durch die Koordinierung von Angebot (Einzelpersonen und Organisationen, die ihre Hilfe anbieten) und Nachfrage (bedürftige Einzelpersonen und Organisationen); und fünftens durch die Umsetzung und Überwachung öffentlicher Strategien und Maßnahmen. In einigen Ländern gibt es zusätzlich einen sechsten Verwendungszweck: die Unterstützung von Risikogruppen, also älterer Menschen, Frauen, Kinder und Jugendlicher, indigener Völker und Afroamerikaner*innen.

Hannah Arendt betont, dass Machtausübung in einer Demokratie im Kern ein gemeinsames Handeln sei. Die Covid-19-Krise zeigt, dass die vielfältigen sozialen und politischen Herausforderungen der Corona-Krise nur im zielgerichteten und gemeinsamen Handeln mit anderen bewältigt werden können. Demokratien können die Pandemie nur bewältigen und in der Krise bestehen, wenn Bürger*innen, Zivilgesellschaft und staatliche Akteure zusammen an einem Strang ziehen.